Elf Berliner könntet ihr sein: Wie weit kann Hertha BSC den „Berliner Weg“ gehen?

Eine Bundesliga-Elf, die nur aus Berliner Jungs besteht – ist das einfach eine romantische Illusion oder tatsächlich möglich? In Spanien gibt es zumindest ein Beispiel, das mit seinem Lokalkolorit kurz vor dem Einzug in die Champions League steht. Ein Gedankenexperiment.

Er ist nicht alles, aber inzwischen scheint ohne ihn wieder alles nichts zu sein. Er ist das Mantra, die Handlungs­devise und der Leitgedanke bei Hertha BSC, der alles im Klub zusammenhält: der „Berliner Weg“. Die Abkehr vom Großklub-Getöse, das Entwickeln junger Talente aus der Stadt, die Konzentration von Funktionären mit Hertha-DNA, kurz: das Besinnen auf die eigenen Wurzeln, an die der verstorbene Präsident Kay Bernstein seine Herthaner Zeit seines Wirkens wieder erinnert hat, sei „kein Vermächtnis, sondern ein Auftrag“, sagt Geschäftsführer Thomas E. Herrich. Und Trainer Pal Dardai erklärt den Kurs sogar für „heilig“ und als „Herz des Vereins“: „Es ist unsere Aufgabe, ihn weiterzugehen – mit den Fans, der Mannschaft, der Akademie, den Mitarbeitenden, mit dem gesamten Verein.“

Wie weit aber könnte man eben jenen denn tatsächlich gehen? Bald ein Jahr ist es her, dass Sportdirektor Benjamin Weber, der Herthas Nachwuchsabteilung von 2014 bis 2022 vorstand und nun als Verantwortlicher für die Profi-Mannschaft auch für die charmante Neuausrichtung steht, am Rande des Halbfinals um die Deutsche A-Junioren-Meisterschaft über die „Philo­sophie des Klubs“ referierte. Man wolle in Charlottenburg idealerweise die besten Talente aus Berlin und Brandenburg zusammenbringen und ausbilden, sagte Weber. „Auch wenn völlig klar ist: Wir werden nicht mit elf Berlinern
Fußball-Bundesliga spielen, die aus dem eigenen Nachwuchs kommen.“

Spätestens dort also soll respektive muss der „Berliner Weg“ wohl ein Ende finden – oder vielleicht doch nicht? Ist es wirklich völlig ausgeschlossen, dass ein Verein wie Hertha eines Tages mit elf Akademie-Spielern im Olympiastadion aufläuft? Ist es nicht mehr als eine romantische Utopie oder doch gar kein so abwegiges Szenario? Elf Berliner könntet ihr sein. Ein Gedankenexperiment.

Bevor man sich nun dieser Fantasie hingibt, ist unter anderem die Frage zu klären: Braucht man dieses zugespitzte Modell denn überhaupt und unter allen Umständen? Natürlich nicht, muss die Antwort all jener lauten, die sich rational und realistisch mit dem Thema befassen. Andernfalls würden ja auch viel mehr Klubs auf diesem Planeten eine solche Strategie verfolgen. Es ist schließlich schon schwer genug, überhaupt ein paar Nachwuchsblüten im eigenen Treibhaus wachsen und gedeihen zu lassen. Im Prinzip ist schon ein einziges Talent, das es über die hauseigene Ausbildung zum Profi schafft, ein Erfolg und keine Selbstverständlichkeit.

Das wissen sie sicherlich auch ein paar Kilometer weiter bei Herthas Stadtrivalen in Köpenick. Denn bei allen Errungenschaften und Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit hat der 1. FC Union eines zuletzt kaum geschafft: einen Berliner aus dem Nachwuchsleistungszentrum regelmäßig auf den Bundesliga-Rasen zu bringen. Das letzte Eigengewächs, das sich nachhaltig bei den Eisernen etablierte, war im Grunde Steven Skrzybski. Dieser debütierte Anfang der 10er-Jahre in der 2. Liga und stieg später sogar bis zum Kapitän auf, ehe er die Alte Försterei für den damaligen Champions-League-Teilnehmer Schalke 04 verließ. Inzwischen ist Skrzybski 31 Jahre alt.

Gegenwärtig ist Aljoscha Kemlein (19) die heißeste Aktie auf eine Skrzy­bski-Nachfolge bei Union. Nach drei Pflichtspiel-Einsätzen in der Hinrunde ist der U20-Nationalspieler zurzeit allerdings erstmal an Zweitliga-Tabellenführer St. Pauli verliehen. Auch das zeigt, wie weit Hertha BSC hier schon gekommen ist und dass seine Pionierarbeit mit der seit 2001 bestehenden Akademie womöglich zu selten gepriesen wird. Laut Benjamin Weber haben es aus dem Charlottenburger NLZ seitdem „knapp über 80 Spieler in den Profifußball geschafft“, oftmals auch außerhalb der Stadtmauern. Im vergangenen Sommer stammten mehr als 20 Junio­ren-Nationalspieler aus Herthas Talenteschuppen, womit man der einzige deutsche Klub war, der von der U15 bis zur U21 alle DFB-Teams bestücken konnte. Und erst eine Woche ist es her, dass die Berliner beim Zweitliga-Sieg gegen Schalke (5:2) an einem eigenen Vereins­rekord rüttelten mit der jüngsten Startelf (23,93 Jahre) seit dem Jahr 1995 – darunter waren sechs Akademie-Spieler.

Nun werden einige fragen: Ist das nicht genug? Man könnte es aber auch vom anderen Ende her denken und frohlocken: Viel fehlt nicht mehr bis zur waschechten Elf aus einer und derselben Region – und damit zu einem Alleinstellungsmerkmal im deutschen Profifußball. Man bekommt das Gefühl: Wenn es überhaupt Klubs in Deutschland gibt, die so etwas umsetzen könnten, gehört Hertha neben Standorten wie Freiburg oder Stuttgart dazu.

Um einmal etwas konkreter zu werden, lohnt ein Blick hinweg über die Bundesgrenzen nach Spanien in die etwa 1500 Kilometer entfernte Provinz Bizkaia. Hier im Norden der iberischen Halbinsel, im tiefsten Baskenland, ist der vor Tradition triefende Athletic Club Bilbao zuhause. Und was Hertha BSC mit dem „Berliner Weg“ voranzutreiben versucht, das praktizieren sie in Bilbao mit ihrem baskischen Traum nochmal im Quadrat. Denn hier spielen sie im Grunde nicht nur Fußball – sie spielen Patriotismus.

Athletic Bilbao spielt die vielleicht erfolgreichste Saison der jüngeren Vereinsgeschichte und kann erstmal seit 40 Jahren wieder einen großen Pokal gewinnen. Foto: Imago

Seit dem ersten Tag (und der liegt nun 126 Jahre zurück) kicken für den spanischen Erstligisten ausschließlich gebürtige Basken, Jungs mit baskischen Wurzeln oder wenigstens welche, die aus dem näheren Umland kommen und in baskischen Fußballklubs erzogen wurden. Ein identitätsstiftender Vorgang, bei dem sich die Fans auf frenetische Weise mit ihrer Mannschaft verbrüdern und den es so kein zweites Mal gibt im modernen Fußball. Im Profigeschäft, das heute mehr Business als Sport ist, soll es mit dem Club Deportivo Guadalajara nur noch einen weiteren Verein geben, der ähnlich agiert, indem er lediglich Mexikaner für sich spielen lässt.

Und Athletic Bilbao beweist, dass man mit diesem radikalen Lokalkolorit nicht einfach nur in Überzeugung sterben muss, sondern auch nachhaltig Erfolg haben kann: So gilt Athletic als der finanziell gesündeste Verein in La Liga und steht trotz der Corona-Pandemie als einziger spanischer Klub schuldenfrei da, er qualifiziert sich immer wieder mal für internationale Wettbewerbe, hat acht spanische Meisterschaften sowie 24 Mal den heimischen Pokal gewonnen – und: Neben Real Madrid und dem FC Barcelona ist Athletic der einzige Klub, der in 96 Jahren nie aus der ersten spanischen Liga absteigen musste.

Ist es nicht also doch möglich, Erst­liga-Fußball mit elf Jungs zu spielen, die aus dem eigenen Nachwuchs kommen, wenn man nur den strategischen Willen dazu hat? Und ließe sich Bilbaos einzigartiger „Baskenball“ in irgendeiner Form auf Berlin übertragen? „Eine schöne Idee, aber schwierig umzusetzen“, glaubt zumindest Ex-Profi Sascha Bigalke (34), der fast alle Juniorenteams bei Hertha durchlief, 2008 für die Profis debütierte und danach vor allem mehr als 140 Drittliga-Spiele für Unterhaching machte. Heute arbeitet er als TV-Experte und sagt: „Dass das Gerüst einer Mannschaft aus der Region kommt, halte ich grundsätzlich für möglich, aber ob das reicht?“ Auch die vielen herausragenden Talente brauchen gestandene Anführer um sich herum, meint Bigalke. „Je besser die Struktur, desto eher lassen sich junge, kreative Spieler einsetzen. Das war so und wird immer so bleiben.“

Und natürlich lassen sich schnell weitere Gegenargumente finden: Allen voran lauten sie wohl Marcelinho, Marko Pantelic, Sebastian Deisler und auch Fabian Reese. Denn sie alle hätten nie im Olympiastadion Tore erzielen dürfen, hätte Hertha in seiner Geschichte eine derartige Gesamthaltung verfolgt. Überdies wirkt das System bei Athletic natürlich nicht als das weltoffenste, das sich über das größte Maß an Diversität definiert. Auch die eine oder andere Rassismus-Debatte soll es in Bilbaos Vergangenheit gegeben haben – bis Iñaki Williams (29) die Bühne betrat und 2014 zum ersten Schwarzen wurde, der das Athletic-Trikot überstreifte. Inzwischen ist Williams Vizekapitän, wie sein jüngerer Bruder Nico (21) eine Gallionsfigur und hat bald 100 Tore für den Klub geschossen. Im Jahr 2019 wurde der Sohn ghanaischer Einwanderer zudem zum Fußballer mit der längsten Vertragsdauer – weil er einen Kontrakt für weitere neun Jahre bis 2028 unterschrieben hatte.

Auch das Binden an den Verein ist ein elementarer Baustein, wenn das Konzept aufgehen soll. Denn es reicht ja nicht, die Rohdiamanten einfach nur zu haben – sie sollten auch bleiben und nicht von den Juwelieren um die Ecke veredelt werden. Wie kompliziert das sein kann, erlebt Hertha geradezu déjá-vu-artig. So schimpfte Trainer Pal Dardai bei seiner Antritts-Pressekonferenz vor einem Jahr: „Ich möchte, dass Herthas Jugendspieler nicht weggehen, dass sie die A-Mannschaft so sexy und gut finden, dass sie da wieder Fußball spielen wollen. Nach jetzigem Stand wollen zu viele Talente weg von Hertha – das ist nicht in Ordnung. Ich habe mein halbes Leben dafür gegeben, damit hier eine tolle Nachwuchsabteilung aufgebaut wird.“ Nun muss er akzeptieren, dass sein eigener Sohn Bence (18) ab der kommenden Saison bessere Perspektiven beim VfL Wolfsburg für sich sieht, und auch für Ibrahim Maza (18), dem Dardai in der vergangenen Saison zum Bundesliga-Debüt verholfen hat, soll es bereits Anfragen aus der ersten Liga und der Premier League geben.

Wenn man nicht gerade horrende Entschädigungssummen für seine Talente bekommt, macht der Markt den „Berliner Weg“ zweifellos steiniger. Dennoch ist er in seiner jetzigen und im Vergleich zu Bilbao eher weichen Form alternativ­los, findet mit Dirk Kunert auch einer der erfolgreichsten Nachwuchstrainer der letzten Dekaden. „Hertha macht das wieder richtig super zurzeit mit vielen jungen Akademie-Spielern“, lobt der 56-jährige Berliner, der dieser Tage mit dem BFC Dynamo um den Aufstieg in die 3. Liga kämpft, Herthas B-Junioren Anfang der 2000er zu zwei Deutschen Meistertiteln (2003, 2005) führte und 2013 auch mit Wolfsburgs U19 Deutscher Champion wurde. Bei Hertha leitete er einige Hochbegabte an – und hätte sich eine solche Kultur und Durchlässigkeit vielleicht schon früher gewünscht, „auch wenn es für Nachwuchsspieler bei einem Bundesligisten mit internationalen Ambitionen damals natürlich schwieriger war als heute in der 2. Liga“.

Kunert erinnert sich nicht zuletzt an die U21-Europameister von 2009 zurück, denen mit Jérome Boateng, Patrick Ebert, Ashkan Dejagah, Änis Ben-Hatira und Chinedu Ede (Kevin-Prince Boateng gehörte eigentlich auch zum Kader, wurde aber wegen einer Disziplinlosigkeit kurz vor dem Turnier gestrichen) letztlich fünf Berliner Jungs angehörten. Kunert: „Das war schon speziell.“ Und es zeigt, was für ein immenses Potenzial in der Hauptstadtmetropole schlummert. Anders als Bilbaos berühmte Nachwuchsakademie „Lezama“ verfügt die der Hertha zwar nicht über ein jahrzehntealtes Scouting-Netzwerk mit bis zu 150 „Bruderklubs“, die teilweise gar keine Senioren-Mannschaften beschäftigen, sondern nur Talente zuliefern. Dennoch ist das Einzugsgebiet in Berlin, erst recht wenn man es um Brandenburg ergänzt, etwa dreimal so groß wie die Autonome Gemeinschaft Baskenland, in der 2,2 Millionen Menschen leben. Eine mögliche Berlin-Brandenburg-Auswahl (siehe Grafik) lässt erahnen, wie groß und qualitativ hochwertig der Pool an Spielern ist. Mit Antonio Rüdiger, Robert Andrich, Maximilian Mittelstädt und Maximilian Beier sind sogar vier aktuelle DFB-Nationalspieler dabei, auch Kevin Schade kam 2023 noch unter Hansi Flick zu drei Länderspielen.

„Wir sind Multikulti in Berlin und haben viele Talente“, weiß auch Dirk Kunert, der glaubt, dass Hertha mit der Attitide von Straßenjungs und Zockern auf dem Rasen nach wie vor einen eigenen Stil prägen könne. Er schreibt den Berlinern als solche auch brauchbare, eigentümliche Eigenschaften zu: „Wir Großstadtkinder haben schon eine besondere Mentalität, das habe ich auch immer versucht, meinen Jungs zu vermitteln – wir sind frech, selbstbewusst und haben die Gier, immer gewinnen zu wollen.“ Nichtsdestotrotz ist das selbstbeschränkende, baskische System auch für ihn zu wenig lebensecht. Und nicht zuletzt folgt selbiges auch einem politischen Fanatismus, der mit dem Sport an sich nichts zu tun hat und mit Berlin nicht vergleichbar ist, träumen dortige Separatisten doch seit jeher von der Trennung vom spanischen Königreich.

Deshalb urteilt auch Sascha Bigalke: „Es lohnt sich immer, über den Tellerrand zu schauen, aber manche Dinge lassen sich nicht eins zu eins kopieren. Zwischen dem Baskenland und Berlin-Brandenburg gibt es schon ein paar kulturelle Unterschiede.“ Und Reize von außen könnten auch befruchtend wirken. „Auch auf der Führungsebene wäre Expertise von außen sinnvoll. Wenn es einen Bezug zu Berlin gibt, umso besser, aber grundsätzlich sollte es darum gehen, sich zusätzliche Kompetenz ins Boot zu holen. Am Ende verfolgen wir doch alle das gleiche Ziel und nicht nur Hertha-Sympathisanten wünschen sich, dass im Olympiastadion Erstligafußball gespielt wird.“

Was Bigalke dem Westend abschließend wieder wünscht, „wäre eine Identität, damit junge Menschen kommen, um bei Hertha Profi zu werden und nicht, um so schnell wie möglich weiterzuziehen“. Diesbezüglich hat sich schon einiges in die richtige Richtung entwickelt. „Leider wird kaum etwas von dem riesigen Potenzial ausgeschöpft“, hatte der einstige Hertha-Bubi und Vizeweltmeister Carsten Ramelow (50) kurz vor dem Bundesliga-Abstieg noch kritisiert. „Das finde ich erbärmlich als Berliner. Identität ist ein wichtiges Thema. Man sollte ein Konzept erarbeiten, das über mehrere Jahre trägt, eine Mannschaft hauptsächlich mit Berliner Jungs. Warum man das nicht hinkriegt, verstehe ich nicht.“ Inzwischen aber hat Hertha wieder „junge Spieler, die der Mannschaft und dem Verein den Stempel aufdrücken können“, betont Sportdirektor Benjamin Weber heute zurecht. Jungs mit Berliner Prägung, auf die die Anhänger in der Kurve wieder stolz sein können und denen sie vielleicht auch mal einen Fehlpass mehr durchgehen lassen als einem teuren Legionär, dem egal ist, wie viel der Verein den Menschen bedeutet.

„Das ist der richtige Weg, der auch von den Leu-ten angenommen wird“, erklärt Michael Hartmann (49), Deutscher Meister (2018) und Pokalsieger (2015) mit Herthas A-Junioren und zuletzt Jugendtrainer beim FC Bayern München. Hartmann ist sowas wie der personifizierte „Berliner Weg“, er kam Anfang der 90er aus dem Brandenburger Umland zum Klub, wurde Bundes­liga-Profi und sogar Nationalspieler.

Dass diesen Weg auch heute wieder junge Spieler mit Hertha gehen können, davon ist er überzeugt. Vielleicht sogar so konsequent wie im Baskenland. „Das ist nicht unmöglich“, sagt Hartmann. „Aber Benny hat schon Recht, nur mit Jungs aus dem eigenen Haus geht es auf absehbare Zeit natürlich nicht. Du brauchst immer ein gutes Gefüge, wo du die Jungs mitreinnehmen kannst. Das ist ein langer Prozess – auch in Bilbao hat das nicht von heute auf morgen geklappt.“ Entwicklungen wie diese erfordern nun mal Ausdauer und die Gelassenheit, sich auch von Rückschlägen nicht treiben zu lassen. Doch meist kennt das Profigeschäft keine langfristigen Projekte, sondern nur Ziele, Druck und schnelle Erfolge. „Und da kann sich ja jeder im Umfeld und auch jeder Medienschaffende mal fragen, wie viel Geduld er haben würde“, sagt Hartmann. „Das ist in Berlin sicher etwas schwieriger als zum Beispiel in Freiburg.“

Auch in den Vereinen aber nehme man den eigenen Unterbau meist erst dann in den Fokus, wenn es kaum noch anders geht. Zu verlockend ist es, fertige Spieler einzukaufen, mit denen sich Trikots verkaufen und Marken aufbauen lassen – vor allem in der europäischen Spitze. So stand Arsène Wenger, der langjährige Architekt vom FC Arsenal, einst ziemlich alleine da mit seiner Verweigerung, große Millionensummen für neue Spieler hin und her zu schieben. „Wir kaufen keine Superstars, wir machen sie“, sagte der Begründer vom One-Touch-Football und wurde bald darauf auch von seinen eigenen Fans dafür kritisiert, weil Titel auf sich warten ließen.

„Man sieht aber, dass es erfolgreich sein kann, seine jungen Spieler zu fördern“, erklärt Hartmann und denkt dabei gerne auch an die „Jungen Wilden“ um Kevin Kuranyi, Andreas Hinkel, Timo Hildebrand oder Aleksandr Hleb zurück, mit denen der VfB Stuttgart Anfang der 2000er in die Champions League stürmte. Auch bei der letzten Stuttgarter Meisterschaft ein paar Jahre später (2007) nahmen Eigengewächse wie Sami Khedira, Serdar Tasci, Christian Gentner und Mario Gomez wichtige Rollen ein. Hartmann: „Leider wird das zu oft nur aus der Not heraus gemacht.“ Von dem Verdacht kann man wohl auch Hertha BSC nicht komplett freisprechen.

Von Berlin aus zum Nationalspieler: Maximilian Mittelstädt (l. bei seinem Länderspiel-Debüt gegen Frankreich) ist die Entdeckung der Saison beim VfB Stuttgart und höchstwahrscheinlich bald EM-Fahrer. Foto: Imago

Aus Überzeugung dagegen handelt nicht nur Bilbao, sondern auch ein baskischer Rivale: Real Sociedad San Sebastian, ebenfalls spanischer Erstligist und ebenfalls Ursprung für so manche große Karriere wie zum Beispiel die eines Xabi Alonso. „La Real“ war zuletzt erfolgreicher als Bilbao, kam in den zurückliegenden vier Spielzeiten immer mindestens in die Top 6 und stieß nun in der Champions League erstmals seit 20 Jahren wieder ins Achtelfinale vor – und zwar mit dem höchsten Anteil von Spielern aus der eigenen Jugend aller Achtelfinalisten (15 Spieler).

In San Sebastian beweisen sie, dass man einen Fußballverein gleichzeitig lokal und global ausrichten kann. In der Ausbildung folgen sie dem Prinzip, dass wenigstens 80 Prozent der Jugendlichen aus der Region Gipuzkoa mit rund 700.000 Einwohnern stammen sollen. Dennoch lassen sie auch ausländische Spieler für die Profis spielen wie den schottischen Nationalspieler Kieran Tierney oder die ehemaligen Bundesliga-Stürmer André Silva (Portugal) und Unions Sheraldo Becker (Surinam).

Ein Modell, das für Berlin schon realistischer erscheint – und vielleicht auch mehr Erfolg verspricht als das stringente von Bilbao? Athletic hat zwar etwas Einmaliges und eine beispiellose Verbindung erschaffen, wirkt als gesunder, demütiger Gegenentwurf zu den seelenlosen Paris St. Germains und Manchester Citys dieser Welt. Sportdirektor Rafa Alkorta betont nicht umsonst, es müsse den Fans mehr Freude bereiten, „einen Spieler aus dem eigenen Nachwuchs in der ersten Mannschaft debütieren zu sehen als jemanden von außen“. Am Ende aller Tage spielt man aber auch Fußball, um mal einen Pokal in die Vitrine stellen zu können. Und Bilbaos letzte Meisterschaft stammt aus dem Jahr 1984.

„Bei allem Enthusiasmus und Fanatismus in der Unterstützung für den Klub hegen die Fans natürlich auch den Traum, mal wieder einen Titel zu gewinnen“, weiß auch Erfolgscoach Jupp Heynckes, der Bilbao von 1992 bis 1994 und von 2001 bis 2003 trainierte. Immerhin könnte es nun mal wieder soweit sein. Athletic spielt die beste Saison der jüngeren Geschichte, könnte sich als Tabellenvierter zum dritten Mal nach 1998 und 2014 für die Champions League qualifizieren – und spielt am 6. April im Pokalfinale gegen Mallorca um den ersten großen Titel seit 40 Jahren.

Ob sich Hertha nun ein Beispiel am Bilbao‘schen Weg nehmen sollte oder ob es auch eine Spur kleiner geht, muss jeder für sich bewerten. Glücklicherweise mus sich Hertha ja nicht entscheiden zwischen: extern oder extrem. Die Berliner können weiter eine gute Mischung finden – mit Marcelinhos und Mazas. In jedem Fall sollte man den gegenwärtigen Kurs halten, aus monetären, aber auch idealistischen Gesichtspunkten. Viele Zuschauer haben längst mehr Gefallen an der Zweitliga-Mannschaft gefunden, die vielleicht nicht so viele Einzelkönner hat wie die Bundesliga-Kader der letzten Jahre, aber für etwas steht. „In Berlin gibt es gute Jungs“, hebt auch Michael Hartmann nochmal hervor und schließt: „Und vielleicht sind es irgendwann auch mal elf auf dem Rasen.“

Text: Steven Wiesner / Titelfoto: Imago

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