„Spitzenreiter, Spitzenreiter, hey, hey!“

Als Andrej Woronin die Bayern mit seinen beiden Toren demütigte

Autor: Michael Jahn


Von Fans, die Hertha BSC nicht wohl gesonnen waren, stammt der hämische Spruch „Willst Du Hertha oben sehen, musst Du die Tabelle drehen!“ Diese Bemerkung stammt aus Zeiten, als Hertha tatsächlich das Ende der Bundesligatabelle zierte, so wie lange in der Spielzeit 1990/91. Doch es ging auch ganz anders. Bislang thronte die Hertha 16-mal an der Spitze im Oberhaus – am häufigsten in der aufregenden Saison 2008/09, als die Mannschaft unter dem Schweizer Trainer Lucien Favre sogar ernsthaft um die Meisterschaft mitspielte.

Es kam nicht oft vor, dass die Fans in der Ostkurve des Olympiastadions die Meisterschale aus Pappmaché in die Höhe hielten oder gar Profis nach Spielende in die Kurve eilten, um es den Anhängern der Blau-Weißen gleichzutun. So geschehen nach dem 20. Spieltag 2008/09 und einem von 74.244 Zuschauern im Olympiastadion frenetisch gefeierten 2:1-Sieg gegen den FC Bayern. Nach 19 Spieltagen führte überraschend die starke TSG Hoffenheim die Tabelle an (39 Punkte), gefolgt vom FC Bayern unter Trainer Jürgen Klinsmann (38) und Hertha BSC (37).
Ausgerechnet im Spitzenspiel am 14. Februar 2009 musste Lucien Favre, als Taktik-Fuchs bekannt, auf einige wichtige Profis verzichten. So fehlten der exzentrische Angreifer Marko Pantelic wegen einer Sprunggelenkverletzung, auch Abwehrmann Steve von Bergen fiel kurzfristig aus, der Brasilianer Cicero war nach fünf Gelben Karten gesperrt. Dafür rückten Arne Friedrich (nach Rückenproblemen), Marko Babic (Startelf-Debüt), Pal Dardai nach überstandener Knie-OP sowie der Brasilianer Rodnei in die Startformation. Letzterer, ein großgewachsene Abwehrmann, war von Hertha aus Bialystok im Nordosten Polens geholt worden und gab sein Bundesliga-Debüt. Ihm fiel die schwere Aufgabe zu, die linke Abwehrseite gegen die stürmischen Bayern um den Franzosen Franck Ribéry und den Italiener Luca Toni abzusichern. Ribéry wurde zudem auch von Marc Stein lange Zeit bewacht und abgemeldet.

Bayern-Coach Klinsmann konnte zum vierten Mal in Serie die gleiche Formation aufbieten. Die erste Halbzeit begann mit vielen ruppigen Duellen, Hertha stand kompakt in der Abwehr – Arne Friedrich und Josip Simunic agierten meist souverän – die Bayern besaßen zwar optisches Übergewicht, doch zu großen Chancen kamen sie nicht. In den ersten 30 Minuten musste Hertha-Keeper Jaroslav Drobny, eine der Stützen im Team, nicht einmal ernsthaft eingreifen. Favre hatte Drobny bereits nach dem siebten Spieltag, einem 1:0-Sieg bei Bayer Leverkusen, nach einigen Großtaten überschwänglich als „Jesus im Tor“ bezeichnet.
Die erste große Chance bekam Mittelfeld-Renner Pal Dardai, wie immer ein großer Kämpfer mit Herz, nach einer halben Stunde. Nach einer Ecke von Patrick Ebert klärte Bayern-Stürmer Luca Toni ungenau und Dardai kam zum Schuss. Es war Ze Roberto, der den Ball auf der Linie abfing und zurück ins Feld schlug. Sieben Minuten vor dem Halbzeitpfiff aber war es so weit: Ebert drosch den Ball in den Münchner Strafraum, wo Bayern-Verteidiger Christian Lell umherirrte. Herthas Andrej Woronin, der in Galaform spielte, kam frei zum Kopfball und schaffte das umjubelte 1:0. Die Leihgabe vom FC Liverpool, ein kraftvoller Stürmer mit strammem Schuss, bildete in dieser Saison zusammen mit Pantelic ein unglaublich starkes Sturm-Duo.
Nach einer Stunde aber fiel der Ausgleich. Drobny hatte gleich zwei Bälle von Lucio und Bastian Schweinsteiger großartig abgewehrt, doch beim dritten Versuch durch Miroslav Klose war der Tscheche machtlos – 1:1 nach 61 Minuten. Bayern stürmte weiter, aber Hertha verfiel nicht in den Fehler, das 1:1 retten zu wollen. Als der Brasilianer Raffael im Zentrum plötzlich Raum bekam, startete er durch und bediente Woronin mit einem feinen Pass.

Der Ukrainer, der sein Haar zum Zopf gebunden hatte, stand allein vor Bayern-Torhüter Michael Rensing und schaffte mit einem platzierten Flachschuss das 2:1 (77.).
Bayern warf nun Mann und Maus nach vorne, aber Herthas Defensive hielt. Danach wurde auf der riesigen Anzeigetafel die Tabelle nach dem 20. Spieltag eingeblendet. Hertha thronte auf Platz eins, Hoffenheim hatte zu Hause mit 1:4 gegen Bayer Leverkusen verloren. Zum ersten Mal nach 867 Tagen stand Hertha BSC wieder einmal ganz oben. Das Olympiastadion feierte. „Spitzenreiter, Spitzenreiter, hey, hey!“ intonierte die Ostkurve minutenlang. Der zweifache Torschütze Woronin wurde zum Helden dieses Spiels und marschierte später in teuren Stiefeln aus Krokodilleder stolz über den Kurfürstendamm.
Hertha hielt seine Anhänger weiter in Atem, hatte im März nach der 23. und 24. Runde (3:1 bei Energie Cottbus, dann 1:0 gegen Leverkusen) sogar vier Punkte Vorsprung auf Platz zwei und gab die Spitze erst Anfang April (nach einem 1:3 gegen Borussia Dortmund) ab. Bis zum vorletzten Spieltag besaß die Mannschaft – bei nur einem Punkt Rückstand auf den späteren Meister VfL Wolfsburg – sogar noch die Chance auf den Titel. Viele Fans träumten bereits von einer riesigen Feier vor dem Roten Rathaus und Manager Dieter Hoeneß von einer Fahrt mit der Schale durchs Brandenburger Tor.
Doch ein umkämpftes 0:0 gegen Schalke 04 zu Hause vor 74.000 Fans im Olympiastadion reichte nicht. Und beim anschließenden 0:4 am 34. Spieltag beim Absteiger Karlsruher SC verspielte das Team sogar die Champions League. Platz 4 blieb am Ende einer lange Zeit großartigen Spielzeit. So nah an der Schale wie im Mai 2009 war seitdem nie wieder eine Hertha-Mannschaft.

Hertha BSC – Bayern München 2:1 (1:0)
HERTHA: Drobny – Stein, Friedrich, Simunic, Rodnei (87. Cufré) – Dardai, Nicu – Ebert (90.+2 Chermiti), Babic – Raffael, Woronin (90. Domowtschiski).
BAYERN: Rensing – Lell (58. Borowski), Lucio, Demichelis, Lahm – van Bommel, Zé Roberto – Schweinsteiger, Ribery – Klose, Toni (35. Donovan).
SR: Meyer (Burgdorf) – Z.: 74.244 (ausverkauft).
TORE: 1:0 (38.) Woronin, 1:1 (61.) Klose, 2:1 (77.) Woronin. GELBE KARTEN: Raffael, Dardai.

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