„Platz drei – das gleicht schon einem Wunder“

Als der Hamburger SV im Olympiastadion nur zum Statisten taugte

Autor: Michael Jahn


Im Sommer 1998 hatten sich Herthas Manager Dieter Hoeneß und Trainer Jürgen Röber für neue Reize entschieden. Drei Jahre lang hieß der Ort des Trainingslagers für die Saisonvorbereitung stets das elitäre Seefeld in Tirol. Nun aber ging es in ein kleines Örtchen namens Tschaggungs im österreichischen Montafon. Im idyllischen „Montafoner Hof“ stieg die Berliner Delegation ab. Abgeschiedenheit und Konzentration auf den Fußball war angesagt.

Zuvor, in der ersten aufregenden Spielzeit nach dem Wiederaufstieg, hatte die Mannschaft Platz 11 erreicht, nach anfänglichen Schwächen in die Spur gefunden und die Saison versöhnlich beendet. Zwischenzeitlich aber war sogar der Job von Trainer Röber in Gefahr geraten.
Ins Montafon fuhren auch die drei Zugänge mit: Nationalspieler Dariusz Wosz, ein kleiner, flinker Dribbelkönig war vom VfL Bochum gekommen. Hertha ließ sich diesen Transfer 5,2 Millionen Mark kosten – damals Vereinsrekord. Mit René Tretschok wurde zudem ein erfahrener Profi vom 1. FC Köln verpflichtet, mit dem Wosz einst zu DDR-Zeiten beim Halleschen FC Chemie zusammen gespielt hatte. Zugang Nummer drei war der Holländer Rob Maas, der von Arminia Bielefeld kam – ein rustikaler defensiver Allrounder.
Die Mannschaft fand schnell zusammen und lieferte zahlreiche starke und auch attraktive Spiele ab. Noch vor der Winterpause rangierte man sogar auf Platz vier in der Tabelle. In der Pause holte Hoeneß den Stürmer Ilija Aracic vom Stadtrivalen Tennis Borussia. Der schlug voll ein und traf im ersten Rückrundenspiel gleich zweimal beim 3:0 gegen Dortmund. Michael Preetz steuerte ein Tor bei. Der „Lange“ war inzwischen unter Bundestrainer Erich Ribbeck gar zum Nationalspieler aufgestiegen und wurde von englischen Klubs umworben. Doch Manager Hoeneß erklärte Preetz für „unverkäuflich“ und stattete ihn mit einem neuen, lukrativen Vertrag aus.

Das Team eilte im letzten Drittel der Saison von Sieg zu Sieg. Am 33. Spieltag kam Hertha beim SC Freiburg zu einem 2:0-Auswärtserfolg. Die Teilnahme am UEFA-Cup war damit sicher. Unglaublich!
Dann aber kam es zum „Spiel der Spiele“. Am letzten Tag der denkwürdigen Saison empfing Hertha im restlos ausverkauften Olympiastadion den Hamburger SV. Die Konstellation sah so aus:
Platz 1: Bayern München 76 Punkte; Platz 2: Bayer Leverkusen 63 Punkte; Platz 3: Hertha BSC 59 Punkte und Platz 4: 1. FC Kaiserslautern 57 Punkte. Bei einem Sieg gegen den HSV, der lediglich auf Platz sieben stand, würde Hertha sensationell die Qualifikation für die Champions League erreichen.
Die äußeren Bedingungen an diesem 29. Mai 1999 waren ein Traum. 76.000 Zuschauer füllten die Arena. Die Sonne strahlte erbarmungslos von einem wolkenlosen blauen Himmel. Die Stimmung war gigantisch. Passend dazu präsentierte sich die Mannschaft von Trainer Röber in Bestform. Und Michael Preetz führte die Torjägerliste der Bundesliga mit 20 Treffern vor dem Leverkusener Nationalspieler Ulf Kirsten an, der bei 18 Toren stand. Bayer empfing zu Hause den schon feststehenden Meister Bayern München und unterlag mit 1:2. Kirsten traf einmal.

Und Preetz? Dem gelangen fantastische drei Tore! Doch der Reihe nach.
Der HSV begann durchaus ebenbürtig und vom späteren Zusammenbruch war noch nichts zu erahnen. Hertha führte zur Pause nur knapp mit 1:0. Nach Vorarbeit von Andreas „Zecke“ Neuendorf, der den fehlenden Norweger Kjetil Rekdal ersetzte, der zu einem Länderspiel abgestellt war, traf Preetz zur umjubelten Führung. Kurz nach Wiederanpfiff verwandelte Preetz – wer sonst? – einen Elfmeter zum 2:0. Tony Yeboah schaffte zwar den Anschlusstreffer für den Hamburger SV, aber nur drei Minuten später war der Widerstand der Gäste endgültig gebrochen. Ilija Aracic hatte auf 3:1 erhöht. Danach fielen die Tore wie reife Früchte und Hertha spielte sich in einen Rausch – angetrieben von einem euphorischen Publikum. Neuendorf, Andreas Thom und Michael Preetz machten das halbe Dutzend voll. Platz drei war der Lohn und tatsächlich rief zum ersten Mal die europäische Königsklasse, die sportlich wie finanziell ungemein lukrative Champions League. Die Zuschauer standen auf ihren Plätzen, La-Ola schwappte durch das Stadion.
Entertainer und Hertha-Fan Frank Zander, in der Arena natürlich vor Ort, nannte dieses Ereignis später einmal „das Spiel seines Lebens“. Er schwärmte: „Die Leute standen Kopf. Und nach dem Spiel – da durfte ich zusammen mit Dieter Hoeneß, Jürgen Röber und Torjäger Michael Preetz meine Hymne ‚Nur nach Hause…‘ anstimmen. Alle sangen mit, sogar die Fans der Hamburger. Der absolute Wahnsinn. Eindeutig mein schönster und emotionalster Moment im Olympiastadion.“
So wie Zander erging es vielen Fans im Stadion. Michael Preetz hatte mit 23 Treffern als erster Herthaner die Kanone für den besten Torschützen der Liga gewonnen und die Mannschaft die Herzen der Berliner. Trainer Jürgen Röber jubelte: „Platz drei, das gleicht schon einem Wunder!“

Hertha BSC – Hamburger SV 6:1 (1:0)
HERTHA: Kiraly – Sanneh (80. Saba), Herzog, Hartmann – Dardai, Neuendorf – Thom, Tretschok (72. Mandre-ko) – Wosz – Preetz, Aracic (78. Tchami). Trainer: Röber. HSV: Butt – Panadic, Hoogma, Hertzsch – Ernst – Groth, Spörl (46. Straube), Babatz (58. Grammozis) – Kirjakow, Yeboah, Dembinski (46. Doll). Trainer: Pagelsdorf.
SR: Weber (Essen) – z.Z: 76.000 (ausverkauft).
TORE: 1:0 (6.) Preetz, 2:0 (51.) Preetz (Foulelfmeter), 2:1 (52.) Yeboah, 3:1 (55.) Aracic, 4:1 (69.) Neuendorf, 5:1 (75.) Thom, 6:1 (86.) Preetz.
GELBE KARTEN: Dardai, Neuendorf – Kirjakow.
GELB-ROTE KARTEN: 88. Hoogma (wiederholtes Foulspiel).

Bild5-1 mit Bildunterschrift: Strahlend blauer Himmel, ausverkauftes Stadion – ein Fußballfest in Blau und Weiß nimmt seinen Lauf: Hier verwandelt Michael Preetz fünf Minuten nach Wiederanpfiff einen Foulelfmeter gegen HSV-Keeper Jörg Butt. Foto: imago images/Camera 4

Bild5-2 mit Bildunterschrift: Ein Traum wird wahr: Junge Hertha-Fans feiern nach dem Abpfiff am 29. Mai 1999 den Einzug in die Champions League. Foto: ullstein bild – Pollack Sportphoto,

Bild5-3 mit Bildunterschrift: Brach mit dem 3:1 den Widerstand der Hamburger: Ilija Aracic (rechts, mit Michael Preetz). Foto: ullstein-bild – contrast

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