Zwei Flaschen Rotwein für noch mehr Tore

Als Borussia Dortmund mit 1:9 im Olympiastadion unterging

Autor: Michael Jahn


Uwe Witt überlegt kurz und sagt dann: „Nach diesem Spiel hatten wir alle ein außergewöhnliches Gefühl. Es war damals schon sensationell, wie wir die Dortmunder auseinander genommen haben.“ Witt, einst Libero und Kapitän von Hertha BSC – auch beim 9:1-Erfolg am 18. April 1970 – ist inzwischen 81 Jahre alt. „Die exakten Erinnerungen an den Spielverlauf schwinden natürlich nach über 50 Jahren“, erzählte Witt, der in Berlin lebt, vor wenigen Tagen. „Aber es war ein ganz großer Auftritt von unserem Wolfgang Gayer, der vier Tore schoss und auch von Lorenz Horr. Im Tor stand mein bester Kumpel Volkmar Groß, der leider schon vor sechs Jahren gestorben ist.“

Neun Treffer in einem Bundesligaspiel hat seitdem eine Hertha-Mannschaft nie wieder erzielen können. Sechs Tore waren das Höchste der Gefühle. Dieses denkwürdige Duell gegen Borussia Dortmund fand am 32. Spieltag der Saison 1969/70 statt. 22.909 Zuschauer waren bei regnerischem Wetter und Temperaturen um lediglich 12 Grad ins Olympiastadion gekommen. Hertha nahm Rang vier in der Tabelle ein, Dortmund folgte auf Platz 5. Doch die Tabelle war ein wenig „schief“, weil durch Wetterunbilden viele Spiele nachgeholt werden mussten. Allein Hertha musste unter Trainer Helmut „Fiffi“ Kronsbein inklusive der Dortmund-Partie am Saisonende fünf Spiele binnen 15 Tagen absolvieren! Ein Härtetest.
Auf der Titelseite des Programmheftes zum Spiel thronte Dortmunds Nationalspieler Siggi Held. Doch der fehlte im Olympiastadion genauso wie die BVB-Stammkräfte Reinhold Wosab und Willi Neuberger. Schuld war eine Impfung. Dortmund wollte nach Saisonschluss nach Mexiko reisen. Im Vorfeld der Weltmeisterschaft waren Testspiele, auch gegen die Nationalelf von Mexiko, geplant. Dafür ließen sich alle Borussen gegen Pocken impfen. Mehrere Spieler bekamen danach aber Fieber und Trainer Hermann Lindemann musste mit einigen jungen Profis antreten. Lindemann aber gab sich optimistisch und sagte: „Vielleicht klappt es in Berlin umso besser, oft sind ja ersatzgeschwächte Mannschaften über sich hinausgewachsen.“

Er wollte seiner Truppe Mut machen. Doch dafür war Hertha an diesem Apriltag zu stark, zu engagiert und zu torhungrig. Man strebte am Saisonende Platz drei an, was auch hinter Meister Borussia Mönchengladbach und Vize Bayern München gelang. Bei der Borussia konnten die erfahrenen Spieler wie Rudi Assauer, Dieter Kurrat und Horst Trimhold das Unheil nicht abwenden. Nach 180 Sekunden führte Hertha durch Treffer von Lorenz Horr und Wolfgang Gayer schon mit 2:0. Nach einer halben Stunde stand es 4:0 und zur Pause 6:0! Dortmunds bemitleidenswerter Torhüter Klaus Günther beschrieb später drastisch seine Gefühle: „Oft schien es mir, als tanzten 50 Blau-Weiße in meinem Strafraum einen höllischen Reigen!“ Und „Hoppy“ Kurrat meinte: „Wenn man 0:4 hinten ist, hört man auf zu hoffen.“

Es war Wolfgang Gayer, der vier Tore schoss, dazu kamen zwei Treffer von Lorenz Horr und je ein Tor durch Tasso Wild, Franz Brungs und Hermann Bredenfeld. Für Dortmund schaffte Jürgen Boduszek den Ehrentreffer, nachdem Kurrat beim Stand von 8:0 einen Elfmeter verschossen hatte (66.).
Gayer und Horr bekamen im Magazin „Kicker“ die Traumnote 1 für ihre exzellenten Auftritte. Gayer sagte später: „Ich hätte gern fünf Dinger gemacht, weil Gerd Müller im selben Monat auch vier Tore gegen Oberhausen geschossen hatte. Das wollte ich überbieten.“ Gayer verriet: „Unser Trainer Fiffi Kronsbein hatte uns in der Halbzeit zwei gute Flaschen Rotwein versprochen, wenn wir weiter Tore schießen.“ Herthas Stürmer Arno Steffenhagen meinte nach dem Abpfiff trocken: „Heute werden die Zuschauer wohl mit uns zufrieden sein.“

Wolfgang Gayer, heute 77, der Held des Spiels, denkt noch oft an jenen Auftritt – meist, wenn er Borussia Dortmund im Fernsehen sieht. Das kann er schon am kommenden Sonnabend, wenn Dortmund mit Trainer Lucien Favre im Olympiastadion bei Hertha zu Gast ist. Gayer: „Das war damals auch für mich ein Rekordspiel. Ich war zwar sehr torgefährlich, vier Stück aber habe ich später nie wieder gemacht.“ Gayer schaffte in 98 Erstligaeinsätzen für Hertha stattliche 30 Treffer.

Kapitän Uwe Witt erinnert sich, was nach dem Abpfiff abging: „Wir sind nach diesem 9:1 feiern gegangen in unserer Stammkneipe ‚Waldhaus‘ in der Heerstraße. Da ging es hoch her.“ Bei diesem Anlass hatten sich das die Herthaner absolut verdient.

Hertha BSC – Borussia Dortmund 9:1 (6:0)
HERTHA: V. Groß – Patzke, Witt, Wild, Ferschl – Altendorff (46. Bredenfeld), Gayer, Horr – Steffenhagen, Brungs (64. Laube), Weber.
DORTMUND: Günther – Sturm, Rasovic, Kohlhäufl, Peehs – Assauer (11. Schütz), Kurrat, Trimhold – Heeren, Erler, Rieländer (46. Boduszek).
TORE: 1:0 (1.) Horr, 2:0 (3.) Gayer, 3:0 (21.) Horr, 4:0 (26.) Gayer, 5:0 (37.) Brungs, 6:0 (45.) Gayer, 7:0 (49.) Gayer, 8:0 (65.) Wild, 8:1 (80.) Boduszek, 9:1 (88.) Bredenfeld.

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