Faustrecht an den Stadionkassen

Als Berlin für die größte Bundesliga-Kulisse aller Zeiten sorgte

Autor: Michael Jahn

Die Lust auf Hertha war riesengroß im Herbst 1969. Drei Jahre hatte die Mannschaft zuvor nach dem Zwangsabstieg 1965 wegen Zahlung überhöhter Gehälter und Handgelder in den Niederungen der Regionalliga Berlin verbracht, ehe nach dem Aufstieg 1968/69 Platz 14 in der Bundesliga erreicht wurde. Die Fans sehnten sich nach Erfolgen, nach gemeinsamen Erlebnissen gegen die Großen des deutschen Fußballs. Nie wieder sollten die Gegner etwa BFC Südring, VfB Hermsdorfoder 1. FC Neukölln heißen.
Nun aber, in der neuen Spielzeit 1969/70, sollte es möglichst schnell weiter nach oben gehen. Bernd Patzke, Lorenz Horr und Wolfgang Gayer hießen die namhaften Zugänge, die der Mannschaft von Trainer Helmut „Fiffi“ Kronsbein eine höhere Qualität bringen sollten. Nach dem 5. Spieltag lagen die Berliner auf Platz 8 und empfingen mit dem 1. FC Köln den Fünftplatzierten. Das Duell am 26. September 1969 gegen die Kölner mit solch prominenten Profis wie Wolfgang Overath, Calli Rühl, Heinz Flohe oder Hannes Löhr war zugleich Herthas 100. Bundesligaspiel und das 50. Heimspiel.

Schon der Vorverkauf verlief sensationell und ließ eine riesige Kulisse erahnen. Was dann passierte, übertraf aber alle Erwartungen. Die Straßen Richtung Olympiastadion waren total verstopft und bereits eine gute Stunde vor Anpfiff um 20 Uhr an jenem Freitagabend bevölkerten schon 50.000 Zuschauer die Arena. „Überall standen und saßen Menschen“, sagte Herthas Wolfgang Gayer und staunte beim Warmlaufen, „das war unglaublich“.
Beim Anpfiff durch Referee Alfons Betz waren es dann je nach Quelle „fast 90.000“ (Fußball-Woche), exakt 90.000 (Tagesspiegel) oder sogar „geschätzte 120.000 im weiten Rund“ (Kicker). Die offizielle Zahl wurde später mit 88.075 Zuschauern angegeben. Rekord in der Bundesliga, der bis zum heutigen Tag anhält. Diese Bestmarke wird Hertha BSC sicherlich noch sehr lange behalten können, denn die Fassungsvermögen der deutschen Stadien lassen solch eine Zahl nicht mehr zu. Borussia Dortmund kommt mit rund 81.000 Plätzen im Signal Iduna Park diesem Rekord am nächsten.
Gut 5000 Fans hätten damals Zäune überwunden, hieß es. „An den Kassen dominierte das Faustrecht“, berichteten Augenzeugen später. Herthas Schatzmeister aber rieb sich die Hände, denn damals machten die Zuschauereinnahmen den Großteil im Etat der Erstligisten aus. Herthas Mittelstürmer Hans-Joachim Altendorff sagte einmal in seinen Erinnerungen euphorisch: „Janz Berlin war da!“

Berlins Torhüter Gernot Fraydl, Nationalkeeper von Österreich, schwärmte: „Die Atmosphäre war überwältigend, überall waren Menschen, auch auf allen Zugängen im Ober- und Unterring.“ Trainer Helmut Kronsbein hatte seine drei neuen Spieler aufgeboten, aber Lorenz Horr, später viele Jahre einer der erfolgreichsten Torjäger des Klubs, musste schon nach 34 Minuten verletzt den Platz verlassen und wurde durch Franz Brungs ersetzt. Köln war in der ersten Halbzeit oft gefährlich in den Berliner Strafraum eingedrungen. Rühl, der noch 1963/64 bei Hertha auf Rechtsaußen gestürmt hatte, dazu Bernd Rupp und Overath drängten und spielten sich Chancen heraus. Doch Herthas Abwehr um Libero Uwe Witt hielt stand. Den einzigen und entscheidenden Treffer erzielte Zugang Wolfgang Gayer, der schon zuvor bei Borussia Neunkirchen und beim Wiener Sportclub als gefährlicher Torschütze aufgefallen war. Nach 63 Minuten bekam Hertha einen Eckball zugesprochen, den Kölns Torhüter Manfred Manglitz, der bis dahin auch zwei Länderspiele absolviert hatte, monierte. Arno Steffenhagen führte aus und Gayer war mit dem Kopf zur Stelle – 1:0!

Gayer lakonisch: „Ich hatte schon immer einen guten Torriecher!“ Er sollte in der Saison, die für Hertha auf dem starken dritten Rang endete – hinter Meister Borussia Mönchengladbach und Bayern München –, 13 Tore erzielen, genauso viele wie Lorenz Horr. Nur Brungs war mit 15 Toren noch erfolgreicher. Hertha erreichte einen Zuschauerschnitt von 41.707. Das bedeutete Ligaspitze. Die Vereinsführung, viele Spieler, aber vor allem die Fans wähnten sich auf dem Weg nach ganz oben.

Hertha BSC – 1. FC Köln 1:0 (0:0)
HERTHA: Fraydl – L. Groß, Wild, Witt, Patzke – Enders, Altendorff (80. Bredenfeld), Gayer – Ipta, Horr (34. Brungs), Steffenhagen.
KÖLN: Manglitz – Hemmersbach, Biskup (88. Riemann), Weber, Blusch – Simmet, Overath, Flohe (78. Thielen), – Rühl, Löhr, Rupp.
SR: Betz (Regensburg) – Z.: 88.075 (BundesligaRekord).
TORE: 1:0 (63.) Gayer.

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