Pferdeflüsterer Beuckert zähmt die Fohlen
Im Elfmeterkrimi gegen Gladbach glückt der Einzug ins DFB-Pokalfinale
Autor: Andreas Baingo
Denkt jemand an das Jahr 2001, dann gibt es vor allem diese Erinnerungen: Gekaperte Flugzeuge über Manhattan; Einsturz des World Trade Centers; vor Verzweiflung aus den Twin Towers in den Tod springende Menschen; die Weltmacht USA ist in Schockstarre; der „Big Apple“ zwischen Hudson River, East River und Harlem River ist im Herzen getroffen; mehr als 3000 Menschen sterben an diesem 11. September; Apokalypse. Präsident George W. Bush, der beim Besuch einer Grundschule in Florida davon erfährt, spricht von einer „nationalen Tragödie“. Was dagegen ist schon, dass in Berlin der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) durch ein Misstrauensvotum gestürzt wird und Klaus Wowereit (SPD) sich als Nachfolger nur Tage zuvor mit den Worten „Ich bin schwul – und das ist auch gut so“ als homosexuell outet. Was auch ist dagegen in Bulgarien die Wahl des ehemaligen Zaren Simeon II. zum Ministerpräsidenten und im Dezember in der neugeschaffenen Euro-Zone die Ausgabe der Starterkits im Nennwert von 10,23 Euro für 20 D-Mark.
Andererseits hat der Sport ziemlich viel zu bieten. So gewinnt mit den Handballern des SC Magdeburg erstmals ein Team aus dem Osten einen gesamtdeutschen Titel. In der Fußball-Bundesliga tritt mit Energie Cottbus erstmals ein Team nur mit Ausländern in der Startelf an und die Bayern triumphieren in der Champions League. In der WM-Qualifikation knallt Australien gegen Amerikanisch-Samoa mit 31:0 ein Rekordergebnis raus und im Pott wird die Arena Auf Schalke eröffnet.
Fehlt nur noch der 1. FC Union. Die Eisernen sind Drittligist. In der gerade geschaffenen Regionalliga Nord sind sie auf Kurs 2. Bundesliga und steigen gemeinsam mit Babelsberg 03 auch auf. Was aber hängenbleibt, ist der Auftritt im DFB-Pokal. Bis ins Finale schaffen es die Männer um den bulgarischen Trainer-„General“ Georgi Wassilew, verlieren an einem denkwürdigen Abend im Olympiastadion durch zwei Treffer von Nationalspieler Jörg Böhme gegen Schalke 04 mit 0:2, doch die emotionalste Partiespielt sich Monate vor dem Endspiel in der Alten Försterei ab.
Der 6. Februar 2001 ist in Berlin gar nicht so kalt, tagsüber um die 10° Celsius, am Abend nur 4°, aber nass und damit nicht gerade geschaffen für ein so wichtiges Spiel wie das Halbfinale gegen Borussia Mönchengladbach. Erst recht nicht, weil die Tage und Nächte zuvor klirrenden Frost gebracht hatten und der Rasen gerade 24 Stunden zuvor von einer zehn Zentimeter dicken Schnee- und Eisschicht befreit worden war. Trotzdem ist zum ersten Mal in diesem Wettbewerb ein Match der Eisernen in dieser Spielzeit mit 18.100 Zuschauern ausverkauft.
Das 2:0 in der 1. Runde gegen Rot-Weiß Oberhausen hatten lediglich 3499 Fans miterleben wollen, das 1:0 danach gegen Greuther Fürth mit 3.098 noch weniger und selbst im Achtelfinale gegen Ulm waren beim 4:2 ganze 3521 Anhänger im Stadion. Nach den drei Triumphen gegen die Zweitligisten schlägt im Viertelfinale mit dem VfL Bochum zwar ein Bundesligist in der Alten Försterei auf, nur hätte auch da bei 11.045 Zuschauern noch jeder Einlass gefunden, der auf den letzten Drücker gekommen wäre. Vielleicht haben die wenigsten den Rot-Weißen das 1:0 zugetraut, das Abwehrkante Daniel Ernemann in letzter Minute erzielt und das den Sprung ins Halbfinale ermöglicht.


Gegen die Gladbacher aber kommen sie alle. Vielleicht auch, weil sie ihren Jungs endlich was zutrauen oder auch darum, weil Hans Meyer, der Kult-Trainer, sechs Jahre zuvor auch mal für ein paar Monate Coach der Eisernen, die Gäste-Elf betreut. Trotz des Klassenunterschieds stehen die Zeichen nicht schlecht für die Köpenicker, auch wenn sie in der Regionalliga Nord aktuell sechs Punkte hinter Spitzenreiter Eintracht Braunschweig nur auf Rang 5 liegen und die Borussia in der 2. Bundesliga auf Kurs Erstklassigkeit ist. Dass die Rot-Weißen am Ende nach einer ausgesprochenen Pokalschlacht, einem 2:2 (2:2, 1:0) nach Verlängerung und mit einem 4:2 im Elfmeterschießen, ins Finale stürmen, ist da aber noch ein Traum.
Während Hans Meyer auf seinen Offensivmann Marcel Witeczek verzichten muss, meldet sich bei den Gastgebern Steffen Menze nach auskurierter Schulterverletzung zurück. Der Kapitän sorgt gemeinsam mit Harun Isa, der Angreifer ist mit vier Treffern im laufenden Wettbewerb Unions „Mr. Pokal“, für die ersten gefährlichen Aktionen. Bis sich Borussias Vierer-Abwehr ein wenig geordnet hat, vergeht eine Viertelstunde. Trotzdem findet Bozidar Djurkovic kurz danach eine Lücke und nutzt ein Missverständnis zwischen Gladbachs Deutsch-Brasilianer Marcelo Pletsch und Peter Nielsen zum 1:0 (27.).
Im ausgeglichenen Spiel (am Ende sind es 10:11 Chancen und 5:5 Ecken) behauptet sich der Regionalligist vorerst auch deshalb, weil Tom Persich Borussia-Angreifer Arie van Lent nicht aus den Augen lässt. Nach Wiederbeginn aber ändert sicheiniges, Borussia drängt auf den Ausgleich. Den verhindert Schlussmann Sven Beuckert mit einer Klasse-Parade gegen Markus Hausweiler (48.), und bei einem Freistoß von Markus Osthoff rettet die Latte (60.). In der Drangperiode der Gäste beweist van Lent dann doch seinen Torriecher: Mit einem Doppelschlag (61., 67.) dreht er die Partie, auch weil die Eisernen etwas ihren Rhythmus verlieren und ein wenig schon auf Zeit spielen.
Georgi Wassilew handelt prompt. Mit Michael Zechner und Daniel „Texas“ Teixeira bringt er frischen Wind in den Angriff. Insofern hat der Trainer damit ein goldenes Händchen, weil Teixeira die Vorarbeit für das 2:2 leistet, das Menze nach Flankedes Brasilianers köpft (80.). Der Rest bis zum Elfmeterschießen ist Nervenkitzel, weil zwar die Einheimischen wieder etwas mehr vom Spiel haben, auf der anderen Seite aber van Lent den Pfosten trifft (118.). So entscheidet ein Krimi vom Punkt über den Einzug ins Finale.
Es wird für alle ein unvergesslicher Abend, vor allem für Sven Beuckert. Der Pferdenarr ist mit zwei gehaltenen Elfmetern der gefeierte Held. Gleich den ersten Schuss von van Lent pariert er, den zweiten von Max Eberl auch. Der Pferdeflüsterer zähmt die Fohlen. Weil für die Rot-Weißen Daniel Teixeira, Michael Zechner, Bozidar Djurkovic und Ronny Nikol verwandeln, ist bereits nach dem vierten Pärchen Schluss – die Eisernen stehen im Finale!
1. FC Union – Bor. M‘gladbach n.V. 2:2 (2:2, 1:0) Elfmeterschießen 4:2
UNION: Beuckert – Tschiedel, Kremenliew, Persich, Nikol – Menze, Ernemann (58. Okeke), Balcarek (69. Zechner), Kiolow – Isa (69. Teixeira), Djurkovic.
MÖNCHENGLADBACH: Kamps – Eberl, Pletsch, Korell, Osthoff – P. Nielsen (81. ter Avest), Hausweiler, Demo (109. Stassin) – Korzynietz (46. Aidoo), van Lent, van Houdt.
SR: Fleischer (Sigmertshausen) – Z.: 18.100.
TORE: 1:0 (27.) Djurkovic, 1:1 (61.) van Lent, 1:2 (67.) van Lent, 2:2 (80.) Menze.
ELFMETERSCHIESSEN: van Lent – gehalten, Teixeira 1:0; Eberl – gehalten, Zechner 2:0; Hausweiler 2:1, Djurkovic 3:1; Aidoo 3:2, Nikol 4:2.
GELBE KARTEN: Djurkovic, Isa, Kremenliew, Tschiedel – Hausweiler, Korell, Eberl.
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