Paukenschlag bei der Rückkehr in den Elitekreis
Als eigentlich chancenloser Aufsteiger besiegt Union 1976 den BFC
Autor: Andreas Baingo
In China stirbt Mao Tse-tung, zur Trauerkundgebung für den Großen Führer erscheinen in Peking rund 1,5 Millionen Landsleute. In Argentinien geht nach einem Putsch die Präsidentschaft von Isabel Peron zu Ende, das Militär übernimmt; während der Herrschaft von General Jorge Rafael Videla kommen rund 30.000 Regimegegner ums Leben. In Stuttgart-Stammheim nimmt sich RAF-Terroristin Ulrike Meinhof das Leben. Die DDR bürgert einerseits Wolf Biermann aus, andererseits wird in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes der Palast der Republik eingeweiht. In derBundesrepublik Deutschland bleibt Helmut Schmidt Bundeskanzler und in den USA wird Jimmy Carter Präsident. In Görlitz wird Michael Ballack geboren und auf dem Nürburgring überlebt der WM-Führende Niki Lauda einen Formel 1-Unfall in seinem Ferrari nur mit schwersten Brandverletzungen.
Es ist ein ziemlich verrücktes Jahr, dieses 1976. Nicht so in der Alten Försterei. Hier sind die brenzligen Jahre vorbei. Drei Spielzeiten haben die Eisernen in der zweitklassigen DDR-Liga verbracht und zweimal in der Aufstiegsrunde der fünf Staffelsieger schlecht ausgesehen. Nach einigen Trainerwechseln hat im Januar Heinz Werner, zuvor bei Hansa Rostock im Amt, übernommen und die Mannschaft um Kapitän Joachim Sigusch auf Kurs getrimmt. Gemeinsam mit den Hanseaten steigen die Eisernen auf und sind endlich wieder erstklassig. Die Saison endet für die Fußballer im Osten Deutschlands mit einem Knaller, sie werden in Montreal Olympiasieger. Einen Knaller hält auch der Spielplan in der Oberliga für die Männer aus der Wuhlheide bereit bei ihrer langersehnten Rückkehr in den Kreis der Elite: Stadt-Derby gegen den BFC Dynamo.
Von Sympathie kann keine Rede sein, eher von Feindschaft. Dennoch spielt bei den Dynamos mit Reinhard Lauck ein ehemaliger eiserner Pokalheld von 1968 mit und bei Union mit Rainer Rohde ein Defensivmann, der erst im Frühjahr nach Köpenick gewechselt ist. Rohde ist ganz besonders motiviert, weil er mit BFC-Trainer Harry Nippert, bei dem er keine Chance mehr bekam, über Kreuz liegt.
Der Coach der Weinroten bringt in der Spielvorbereitung zudem das zweifelhafte Kunststück fertig, seinen ehemaligen Schützling in ein ganz und gar schlechtes Licht zu stellen. „Nachdem er uns beobachtet hatte“, erinnert sich Rainer Rohde, „hat er uns übelst runtergemacht. ,Der im Mittelfeld kann nur geradeaus laufen‘, hat er gesagt. Damit meinte er mich. So etwas macht man nicht.“ Dabei weiß der Dynamo-Trainer ganz genau, dass zur BFC-Stammelf mit Peter Rohde der ältere Bruder des Neu-Unioners gehört… Für Rainer Rohde steht vor diesem Derby deshalb fest: „Mich musste keiner zusätzlich motivieren.“ Was zum Saisonstart am 4. September 1976 im Stadion der Weltjugend – erstmals und in den Jahren darauf immer in der DDR-Oberliga wird das Derby aus Sicherheitsgründen in der riesigen Betonschüssel im Stadtbezirk Mitte ausgetragen – abgeht, endetals Sensation. Noch auf dem Nachhauseweg reiben sich die meisten der Anhänger die Augen. Eigentlich hätte es an-gesichts der Konstellation – hier eine inzwischen personell ausgewogene BFC-Elf mit den beiden frischgebackenen Olympiasiegern Reinhard Lauckund Hans-Jürgen Riediger sowie Frank Terletzki, dem schussgewaltigen Kapitän, da der krasse Außenseiter, bei dem einige Spieler, so der blutjunge Lutz Hendel, gerade ihr Debüt in der höchsten Spielklasse feiern – nur diese Frage geben dürfen: Da mit dem BFC der Sieger von vornherein ja feststeht, wie hoch fällt der Sieg denn aus?
Das 1:0 (1:0) für den Aufsteiger, vorbereitet von Vorstopper Rolf Weber mit feinem Dribbling und erzielt von Ulrich Netz, auch er ein Debütant, spricht eine völlig andere Sprache. Sogar Trainer Heinz Werner kann es kaum fassen. Kurz vor Anpfiff spricht er vorsichtig davon, dem Gegner nach Möglichkeit nicht zu viel Freiheiten zu gewähren. „Unser Konzept basiert auf Disziplin, Lauffreude und Beweglichkeit bei Kontern. Wir trachten nicht danach, das spielerische Kräfteverhältnis herzustellen. Da spricht einfach zu Vieles für den BFC.“
In der statistischen Bilanz spiegelt sich das ganz deutlich wider. So geben die Dynamos 23 Schüsse auf das Union-Tor ab, Frank Terletzki ist mit sieben Versuchen dabei, Reinhard Lauck mit sechs. Auf sechs kommen auch die Eisernen, aber zusammen. Nurist der von Netz in Minute 14 derjenige, der von BFC-Schlussmann Hans-Gustav Creydt nicht pariert werden kann, rechts unten einschlägt und dieses emotionale Spiel vor 45.000 Zuschauern schließlich entscheidet.
Am Ende ist Heinz Werner regelrecht von den Socken, was seine Außenseiter – der prächtige Wolfgang Matthies im Tor, der stellungssichere Fritz Bohla als Libero, die Dreier-Abwehr mit Dieter Wünsch, Rolf Weber und Bernd Vogel, die Mittelfeldreihemit Geburtstagskind Ulrich Werder (der Dauerläufer feiert seinen 25.), Bernd Jessa und Rainer Rohde sowie der Angriff mit Karsten Heine, Ulrich Netz und dem Kapitän und Strategen Joachim Sigusch – auf den Rasen zaubern. In höchsten Tönen lobt der Coach die „phantastische kämpferische Einstellung“ und die „hohe Disziplin in der Deckungsarbeit“, womit David den Goliath aufs Kreuz gelegt hat.
1. FC Union – BFC Dynamo 1:0 (1:0)
UNION: Matthies – Bohla – Wünsch, Weber, Vogel – Werder, Rohde, Jessa (70. Helbig) – Heine, U. Netz (84. Hendel), Sigusch.
BFC: Creydt – Jonelat – Noack, Eigendorf (74. Jüngling), Wroblewski – Terletzki, Schulenberg, Lauck – Riediger, Schütze, W.-R. Netz.
SR: Horst di Carlo – Z.: 45.000 im Stadion der Weltjugend.
TOR: 1:0 (14.) Netz
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