Nullnummer als rasante Fahrt ins pure Glück
Das Zittern gegen den VfB Stuttgart wird mit dem Aufstieg belohnt
Autor: Andreas Baingo
Dieser große Tag hat eine Vorgeschichte. Eine ziemlich lange sogar. Sie dauert nicht nur das Spieljahr 2018/19 mit seinen 34 Runden und den beiden Aufstiegs-Relegationspartien gegen den Bundesliga-16. VfB Stuttgart, sie beginnt viel früher. Exakt vier Jahre zuvor. Und zwar mit einem Plan von Dirk Zingler. Das markanteste Ziel dieses Planes sieht auf den ersten Blick ziemlich ehrgeizig aus, auf den zweiten ganz schön großmäulig und auf den dritten fast schon größenwahnsinnig. Der Präsident des 1. FC Union, zu diesem Zeitpunkt bereits elf Jahre im Amt, verkündet nach Ende der Saison 2014/15: „Auf Dauer kann es nicht unser Anspruch sein, im Niemandsland der Tabelle zu landen. Wir wollen zu den Top 20 in Deutschland gehören. Diesen Prozess leiten wir ein, ohne verrückte Dinge zu tun.“
Der Eisern-Boss geht wie viele andere in der Hauptstadt davon aus, dass Berlin durchaus zwei Erstligisten verträgt und sagt: „Im Spiel der 36 besten Mannschaften haben wir den Anschluss geschafft, dabei aber noch nicht alle Potenziale erschlossen. Wir möchten dauerhaft zu der Gruppe in der zweiten Liga gehören, die um den Aufstieg spielt, denn die 20 Plätze sind nicht reserviert.“
Dabei sind die Eisernen im Frühjahr 2015 nur dank eines energischen Endspurts mit drei Siegen (3:0 bei 1860 München, 3:1 beim FSV Frankfurt, 2:0 gegen Eintracht Braunschweig) in den letzten vier Saisonspielen (das 1:2 in der Alten Försterei gegen Erzgebirge Aue ist der einzige Ausrutscher am Saisonende) von Tabellenrang 10 auf 7 geklettert. Der Rückstand auf die Aufsteiger FC Ingolstadt (17 Punkte) und Darmstadt 98 (12) ist dennoch beträchtlich. Außerdem ist es eine Zeit, in der Maximilian Thiel für eine Ablöse von 250.000 Euro fest verpflichtet wird, Stephan Fürstner, Benjamin Kessel, Raffael Korte und Denis Daube kommen und Björn Jopek, Mario Eggimann, Martin Kobylanski und Björn Kopplin den Verein verlassen. Dazu geht Sebastian Polter, mit 14 Treffern der mit Abstand erfolgreichste Torschütze der Rot-Weißen, zurück nach Mainz.
Was danach passiert, haben neben Zingler wohl nur die eingefleischtesten Anhänger der Eisernen gedacht – und vielleicht nicht einmal die. Die folgenden Spieljahre sind zwar nicht schlecht und vor allem in der Saison 2016/17 sieht es lange nach einem triumphalen Abschluss aus (nach Runde 25 sind die Eisernen Tabellenführer), am Ende aber haben es die Rückstände auf die zwei direkten Aufstiegsplätze und den Relegationsrang immer in sich: 2016 ist der SC Freiburg um 23 Punkte enteilt, RB Leipzig um 18 und der 1. FC Nürnberg immerhin um 16; 2017 ist der VfB Stuttgart neun Punkte besser, Hannover 96 sieben und Eintracht Braunschweig sechs; 2018 sind es 16 Punkte auf Fortuna Düsseldorf, 13 auf Nürnberg und neun auf Holstein Kiel. Im Spieljahr 2018/19 aber wird alles anders, auch wenn die Aufstiegsplätze an den 1. FC Köln (47 Spielzeiten in der Bundesliga) und vor allem an den Hamburger SV (der Bundesliga-Dino ist nach 55 Erstligajahren erstmals eine Etage tiefer gefallen) fast schon im Vorhinein an die beiden Absteiger vergeben scheinen. Dabei sind von den Spielern, die drei Jahre zuvor noch zu den Stützen in Köpenick gehörten, lediglich Christopher Trimmel, Michael Parensen und der zurückgekehrte Sebastian Polter dabei. Und nach der Sieben-Jahre-Ära von Uwe Neuhaus haben sich die Trainer – Norbert Düwel, Sascha Lewandowski, André Hofschneider, Jens Keller und erneut Hofschneider – ebenso die Klinke in die Hand gegeben. Nun versucht der Schweizer Urs Fischer sein Glück in der Alten Försterei.
Mit ihm startet eine kaum für möglich gehaltene Erfolgsgeschichte, die ihren Anfang am 5. August 2018, gerade einmal fünfeinhalb Wochen nach dem Ausscheiden der DFB-Elf bei der WM in Russland, nimmt. In einem zähen Spiel gibt es nach einem Freistoß von Felix Kroos ein spätes 1:0 über Erzgebirge Aue – und eine Hinrunde ohne Niederlage. In Köln gelingt durch einen Treffer von Sebastian Andersson ein 1:1 und beim HSV durch Treffer von Joshua Mees und Suleiman Abdullahi ein 2:2. Erst beim Rückrundenauftakt im Erzgebirge gibt es mit einem 0:3 die erste Schlappe. Doch weil es in den Heimspielen gegen die Kölner und gegen die Hamburger mit jeweils 2:0 hochwichtige Dreier gibt, ist sogar der direkte Aufstieg hinter der Geißbock-Elf möglich. Weil das aber nicht klappt – ein 2:2 zum Abschluss in Bochum reicht nur zu Platz 3 –, geht es in der Relegation gegen den VfB Stuttgart und da nach dem 2:2 im Hinspiel im Ländle (erst gleicht Suleiman Abdullahi die VfB-Führung von Christian Gentner aus, dann Marvin Friedrich die von Mario Gomez) am 27. Mai 2019 in Köpenick um alles.
Die Partie steht unter dem Slogan: Wann, wenn nicht heut? Urs Fischer schwört die Fans auf einen großen Tag ein („Das Motto für den Kampf haben wir von euch bekommen: Gib niemals auf und glaub an Dich!“) und erlebt einen epischen Abend. Doch zuvor gehen der Trainer, die Mannschaft und vor allem die Anhänger fast durch die Hölle, zumal Kapitän Christopher Trimmel wegen einer Gelben Karte aus dem Spiel vier Tage zuvor gesperrt fehlt und durch Julian Ryerson ersetzt wird.
Die 22.012 Zuschauer erleben zwar nicht die allerfeinste Fußball-Kost, dafür aber Hochspannung von der ersten bis zur letzten Minute. Es beginnt mit einer Großchance von Özan Kabak (3., von Rafal Gikiewicz gemeistert) und findet in Minute 9 einen kuriosen Kulminationspunkt, der für die Eisernen nach einer Zittereinlage gut ausgeht: Dennis Aogo schmettert einen Freistoß zwar in den Kasten von Gikiewicz, weil sich Nicolas Gonzalez aber nicht nur im Abseits, sondern auch im Sichtfeld des Schlussmannes bewegt, entscheidet Schiedsrichter Christian Dingert nach bangen Momenten: kein Tor!
Trotzdem sind die Schwaben das bessere, druckvollere und strukturierter spielende Team, und sie haben mit dem Franzosen Benjamin Pavard sogar einen Weltmeister in ihren Reihen. Dass die Eisernen zur Pause bei einem Torschussverhältnis von 1:6 dennoch hinten die Null halten, die auch ohne eigenes Tor zum Aufstieg reicht, grenzt an ein mittleres Wunder. Erst nach einer Stunde entspannen sich die Fans, denn nun erspielen sich die Männer um Marvin Friedrich, den Kapitän-Vertreter für Trimmel, die besseren Gelegenheiten. Allerdings schaffen sie es nicht, ein Polster zu legen, denn Grischa Prömel lässt eine gute Chance liegen (61., Santiago Ascacibar klärt im letzten Moment) und Suleiman Abdullahi hat mit zwei Treffern an den Pfosten (64., 66.) unglaubliches Pech.
Was bleibt, ist, weil der Gegner zunehmend die Brechstange herausholt, eine knallharte Abwehrschlacht, ein um jeden Zentimeter kämpfender und nie aufgebender Manuel Schmiedebach und ein glückliches Ende nach fünf Minuten Nachspielzeit. Dann kommt das: „Aus! Aus! Aus! Union ist in der Bundesliga!“ Die Fans fluten den Innenraum, sie herzen die Spieler und klatschen sie ab. Sie genießen die wichtigste und schönste Nullnummer der Vereinsgeschichte als rasante Fahrt ins pure Glück. Und sie sind voller Vorfreude auf die Bayern, auf Borussia Dortmund, auf Schalke und all die anderen Schwergewichte des deutschen Fußballs, die nun zu Punktspielen in die Alte Försterei kommen werden.
1. FC Union – VfB Stuttgart 0:0
UNION: Gikiewicz – Ryerson, Friedrich, Hübner, Reichel – Schmiedebach, Prömel, Hartel (65. Mees) – Zulj (90.+3 Parensen), Abdullahi (82. Gogia) – Andersson.
STUTTGART: Zieler – Pavard, Kabak, Badstuber, Aogo – Ascacibar, Gentner, Zuber (68. Castro), Akolo – Donis (60. Didavi), Gonzalez (46. Gomez).
SR: Dingert (Gries) – Z.: 22.012 (ausverkauft).
GELBE KARTEN: Schmiedebach, Friedrich – Gentner
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