Göttliche Rettung in allerletzter Sekunde
Wie in Karl-Marx-Stadt auf wundersame Weise der Klassenerhalt gelingt
Autor: Andreas Baingo
Die Sache ist klar. Der 1. FC Union ist am letzten Spieltag der Oberliga-Saison 1987/88 nicht mehr zu retten. Eigentlich. Die Köpenicker haben ein Spieljahr so gut wie hinter sich, für das sie keinerlei Lorbeer verdient haben. Schon im Vorjahr habensie zittern müssen. Nur knapp sind sie ins Ziel gekommen. Ein Sieg weniger und sie hätten sich vor zwölf Monaten schon gemeinsam mit Fortschritt Bischofswerda aus der höchsten Spielklasse der DDR verabschiedet. Danach hat Wolfgang Matthies, ihr Kult-Torhüter, seinen Abschied gegeben, auch Lutz Hovest und Lothar Enzmann haben „tschüss“ gesagt.
Karl Schäffner, in seiner vierten Saison Trainer in der Alten Försterei, bekommt die Mannschaft einfach nicht zum Laufen und wird entlassen. Die Hoffnung ruht auf Karsten Heine, dem ehemaligen Spieler, der zur Rückrunde von Schäffner übernimmt und retten soll, was trotz des Engagements des einstigen Offensivmannes und seines Assistenten Gerd Struppert nach 25 von 26 Spieltagen nach menschlichem Ermessen nicht mehr zu retten ist.
Vorletzter sind die Eisernen, weil sie vor allem auswärts kaum etwas auf die Reihe gebracht haben außer drei Unentschieden und nur einem Sieg, einem 2:1 bei Stahl Riesa. Nur stehen die Riesaer erstens vor dem Saison-Halali bereits als Absteiger fest (gegen wen also soll ein Auswärtssieg drin gewesen sein, wenn nicht wenigstens gegen das abgeschlagene Schlusslicht) und zweitens brauchen die Männer um Olaf Seier und André Sirocks, Steffen Schlegel und Ralph Probst, Steffen Enge und MatthiasMorack, Peter Schoknecht und Olaf Hirsch, René Unglaube und René Adamczewski einen zweiten Sieg in der Fremde.
Unbedingt. Ein Punkt reicht nicht, selbst wenn Rot-Weiß Erfurt (jetzt rächt sich das 1:7 bei den Thüringern, mit dem die Unioner dort mit der höchsten Niederlage aller Teams in dieser Saison untergegangen sind und deshalb mit ihrem miserablen Torkonto arg hinterherhinken) beim 1. FC Lokomotive Leipzig und der FC Vorwärts Frankfurt/Oder beim BFC Dynamo – der braucht den Sieg dringend, um zum zehnten Mal in Folge Meister zu werden und noch nie haben so viele Union-Fans dem Erzrivalen derart kräftigdie Daumen gedrückt – verlieren sollten. Das wenigstens klappt. Die Erfurter verlieren 1:3 und die Frankfurter beim erneuten Titelträger zwar nur 0:1, trotzdem sind sie um ein winziges Törchen schlechter als die Rot-Weißen aus Thüringen. Damit öffnet sich das Türchen, das den Männern des 1.FC Union die Rettung ermöglicht, einen winzigen Spalt breit. Immerhin …
Nun aber sind die Eisernen gefragt. Sie müssen zu ihrem vermeintlichen Abstiegsspiel in die Stadt mit den drei „O“, wie Auswärtige das Industriezentrum im Sächsischen verballhornen: nach Korl-Morx-Stodt, das heute wieder Chemnitz heißt. Weil derdortige FC Karl-Marx-Stadt nicht mehr als ein Team aus dem Mittelfeld ist und der einzige Meistertitel elf Jahre zurückliegt, sind lediglich 6800 Zuschauer heiß auf das letzte Saisonspiel.
Dass davon mehr als die Hälfte aus Berlin kommen, wird vom Anpfiffan klar. Es sind nur die Anhänger in Rot und Weiß zu hören und zu sehen. „Durch deren bravouröse Unterstützung hatten wir ja fast ein Heimspiel“, staunte Heine. Die Karl-Marx-Städter, die Himmelblauen, verehren derzeit nämlich einen anderen sportlichen Stern. Die Sympathien vieler dort gerade in dieser Zeit fliegen einer jungen Dame zu, der Historisches gelungen ist. Nach 1984 in Sarajevo gewinnt die Eiskönigin auch kurz zuvor inCalgary Gold bei den Olympischen Winterspielen. Ihr Name: Katarina Witt.
Dagegen ist Heinz Werner, der beim 1. FC Union seit 1976 über etliche Jahre eine Ära geschaffen hat, im dortigen Dr.-Kurt-Fischer-Stadion ein Auslaufmodell. Der Trainer bestreitet sein letztes Spiel als Coach des FCK und gibt später fast unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu, dass er nach dem Schlusspfiff am liebsten mitgefeiert hätte.
Soweit ist es zwar noch lange nicht, doch was an diesem sonnigen 28. Mai passiert, geht als Wunder in die eiserne Historie ein, als Fußball-Gott-Werdung jener Spieler, die das Unmögliche schaffen und auch jener, die auch nur irgendwie damitverbunden sind. Dabei stehen die Vorzeichen für die Eisernen denkbar schlecht. Uwe Borchardt, das Stürmer-Talent, muss ausgerechnet beim FC Vorwärts seinen Armeedienst ableisten. Norbert Trieloff, der Abwehrchef ist zu Beginn der Saison vom BFC Dynamogekommen, fällt ebenso aus wie Routinier Lutz Hendel und Außenverteidiger Olaf Reinhold. Vor allem die Defensive ist damit gegen einen Gegner, der mit Jürgen Bähringer einen auch für die Offensive bärenstarken Libero stellt, der mit Rico Steinmann übereinen exzellenten Spielmacher sowie mit Hans Richter und Michael Glowatzky über zwei Nationalspieler im Angriff verfügt, stark gehandicapt. Dabei hätten die Eisernen, was die Gegentore vor dieser Partie angeht, 52 sind es nämlich, sowieso schon die Rote Laterne. Nur: Allein das Hier und Heute zählt.
Soweit ist es zwar noch lange nicht, doch was an diesem sonnigen 28. Mai passiert, geht als Wunder in die eiserne Historie ein, als Fußball-Gott-Werdung jener Spieler, die das Unmögliche schaffen und auch jener, die auch nur irgendwie damitverbunden sind. Dabei stehen die Vorzeichen für die Eisernen denkbar schlecht. Uwe Borchardt, das Stürmer-Talent, muss ausgerechnet beim FC Vorwärts seinen Armeedienst ableisten. Norbert Trieloff, der Abwehrchef ist zu Beginn der Saison vom BFC Dynamogekommen, fällt ebenso aus wie Routinier Lutz Hendel und Außenverteidiger Olaf Reinhold. Vor allem die Defensive ist damit gegen einen Gegner, der mit Jürgen Bähringer einen auch für die Offensive bärenstarken Libero stellt, der mit Rico Steinmann übereinen exzellenten Spielmacher sowie mit Hans Richter und Michael Glowatzky über zwei Nationalspieler im Angriff verfügt, stark gehandicapt. Dabei hätten die Eisernen, was die Gegentore vor dieser Partie angeht, 52 sind es nämlich, sowieso schon die Rote Laterne. Nur: Allein das Hier und Heute zählt.
Was sich danach in 89 Minuten abspielt, sorgt allein schon für Gänsehaut. Es geht nämlich zur Sache. Bernd Heynemann, der Fifa-Referee aus Magdeburg, muss höllisch auf der Hut sein. Am Ende hat er 64-mal (!) auf Freistoß entscheiden müssen und er hat sieben Gelbe Karten, fünf wegen Foulspiels und zwei wegen Reklamierens, verteilt. Aber: 60 Sekunden vor dem Ende sind die Eisernen nach zweimaligem Rückstand durch Jörg Illing (7.) und Rico Steinmann (68.) trotz zweimaligen Ausgleichs durch Olaf Seier (14.) und Michael Weinrich (73., der Joker ist erst Sekunden zuvor für Adamczewski gekommen) beim Stand von 2:2 trotzdem durchgefallen.
Alles ist für die Katz. Leicht und locker hätten sie längst in Führung liegen können bei den dicken Gelegenheiten, die sie nicht nutzen. „Ich habe schon gedacht, jetzt ist alles zu Ende“, sagte Olaf Hirsch, nachdem er kurz vor Ultimo den Ball bei einer der größten Chancen überhaupt aus kürzester Entfernung in die Wolken gezimmert hatte. „Als wir Mitte der zweiten Halbzeit so viele Chancen besaßen wie in den vergangenen Spielen zusammen nicht und sie doch alle versiebten, dachte ich nicht mehr an die Wende“, hatte sogar Trainer Heine seine Zuversicht verloren.
Eine Gelegenheit aber kommt noch, eine aller-aller-allerletzte. Im zweiten Versuch, im ersten hat er kein Glück, drückt Abwehrmann Mario Maek, auch er war einst vom BFC Dynamo gekommen, den Ball über die Linie – 3:2! Der Sieg! Der Triumph! Der Klassenerhalt! Das Wunder! Die Rettung!
Im „Deutschen Sportecho“, der Sporttageszeitung der DDR, outet sich daraufhin der liebe Gott als Unioner. Diese göttliche Zuneigung zum 1. FC Union wiederum missfällt Manfred Ewald, dem obersten Sportführer der Republik. Als Sozialist sei mandoch zugleich Atheist, lässt er die Verantwortlichen wissen. Das wiederum geht den Rot-Weißen und all jenen, die es mit ihnen halten, sonstwo vorbei.
Was für das rot-weiße Geschichtsbuch bleibt, ist ein Datum, das nach einer lustigen Rückfahrt und zig Stopps zur flüssigen Nahrungsaufnahme in Zeuthen, kurz vor der Stadtgrenze zu Köpenick, im dortigen „Bürgergarten“ ein ganz und gar feuchtfröhliches Ende findet.
FC Karl-Marx-Stadt – 1. FC Union 2:3 (1:1)
FCK: Hiemann – Bähringer – Birner (89. Laudeley), Ziffert, Fankhänel – Illing, Wienhold, Seifert, Steinmann – Richter (73. Persigehl), Glowatzky.
UNION: Schlege – Ketzer – Maek, Morack – Schoknecht, R. Probst (72. Placzek), Seier, Adamczewski (72. Weinrich) – Hirsch, Enge, Unglaube.
SR: Heynemann (Magdeburg) – Z.: 6800.
TORE: 1:0 (7.) Illing, 1:1 (14.) Seier, 2:1 (68.) Steinmann, 2:2 (73.) Weinrich, 2:3 (90.) Maek.
GELBE KARTEN: Fankhänel, Birner, Seifert, Richter – Maek, Weinrich, Enge.
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