Freistoß-Gott Mattuschka trifft zum Derby-Sieg

Im Olympiastadion bekommt Hertha die Wucht der Eisernen ab

Autor: Andreas Baingo

Es ist ein Jahr, dieses 2011, das die Welt verändert. In Nordafrika fegt der Arabische Frühling langjährige Machthaber wie den tunesischen Staatschef Zine el-Abidine Ben Ali und den ägyptischen Langzeit-Herrscher Hosni Mubarak weg. In Libyen wird Muammar al-Gaddafi, der 42 Jahre über das Land geherrscht hatte, getötet und in Pakistan al-Qaida-Anführer Osama bin Laden. Ein schweres Erdbeben und ein Tsunami lösen im Nordosten Japans im AKW Fukushima I die größte Nuklear-Katastrophe seit Tschernobyl 1986 aus und Afrika erhält mit dem Südsudan seinen 54. unabhängigen Staat. In Palo Alto stirbt Apple-Gründer Steve Jobs, in Philadelphia Box-Legende Joe Frazier und im bayerischen Münsing Humorist Loriot.

Dafür feiern die Briten mal wieder eine Traumhochzeit, weil sich Prinz William und Catherine Middleton in der Westminster Abbey das Ja-Wort geben. Auf den Philippinen wächst mit der Geburt eines kleinen Erdenbürgers die Weltbevölkerung auf sieben Milliarden Menschen. In Deutschland, wo Christian Wulff Bundespräsident ist, tritt Karl-Theodor zu Guttenberg nach einer Plagiatsaffäre als Verteidigungsminister zurück, und Stresstest ist das Wort des Jahres.
Auch der Sport sorgt für Höhepunkte. Borussia Dortmund wird deutscher Fußballmeister, die deutschen Frauen scheiden bei der Heim-WM als Titelverteidiger im Viertelfinale gegen den späteren neuen Titelträger Japan aus, beim FC Bayern wird nach der Entlassung von Louis van Gaal zum dritten Mal Jupp Heynckes Trainer, Sebastian Vettel triumphiert mit Red Bull in der Formel 1 und bei der Leichtathletik-WM in Südkorea wird Superstar Usain Bolt nach einem Fehlstart im 100-m-Finale disqualifiziert.
Angesichts dieser Ereignisse hat es ein Spiel des 1. FC Union schwer, in die Phalanx der unvergesslichen Momente vorzustoßen. Und doch glückt das gleich ziemlich zu Beginn des Jahres, genau am 5. Februar ab 13 Uhr. In der 2. Bundesliga steht der 21. Spieltag auf dem Programm und nach dem Stadt-Derby der Eisernen gegen Hertha BSC, das in der Alten Försterei mit einem 1:1 keinen Sieger fand, lockt das Rückspiel 74.244 Zuschauer ins Olympiastadion. Es lässt nach dem 2:1 für die Eisernen hier konsternierte Hertha-Anhänger und dort frenetisch
feiernde Union-Fans zurück.
Die Rollen sind klar verteilt: Die Blau-Weißen marschieren mit Sieben-Meilen-Stiefeln auf direktem Weg zurück in die Bundesliga, sie besitzen fünf Punkte Vorsprung auf Verfolger FC Augsburg und haben aus den zurückliegenden fünf Spielen 13 Punkte geholt. Für die Männer aus der Wuhlheide geht es eher gegen den Abstieg. Drei Punkte nur beträgt das Plus, von Polster mag niemand reden, auf Rot-Weiß Oberhausen und Abstiegs-Relegationsrang 16. Aus den vergangenen sieben Spielen stehen ganze sechs Punkte und lediglich fünf Tore auf der Habenseite.

Der Moment, der das Stadt-Derby am 5. Februar 2011 im Olympiastadion entscheidet: Unions Torsten Mattuschka führt den Freistoß aus, den Hertha-Keeper Maikel Aerts passieren lassen muss. (Fotos: imago images/Hilse/König)
Der Moment, der das Stadt-Derby am 5. Februar 2011 im Olympiastadion entscheidet: Unions Torsten Mattuschka führt den Freistoß aus, den Hertha-Keeper Maikel Aerts passieren lassen muss. (Fotos: imago images/Hilse/König)

Was vorher war, interessiert in einem Derby jedoch so richtig niemanden. Solche Spiele haben von jeher, mehr noch als im Pokal, ihre eigenen Gesetze. Bereits in der Alten Försterei hatte alles für die Blau-Weißen aus Charlottenburg gesprochen, hatten sie ihre drei ersten Saisonspiele (3:2 gegen Oberhausen, 2:1 bei Fortuna Düsseldorf, 3:1 gegen Arminia Bielefeld) doch alle gewonnen, während die Rot-Weißen aus Köpenick (2:2 bei Alemannia Aachen, 1:2 gegen Greuther Fürth, 0:2 in Paderborn) lediglich ein Pünktchen auf dem Konto hatten, einige schon von einem Fehlstart sprachen, das alles beim aufregenden 1:1 aber keinerlei Rolle spielte. Nur so ist der Husarenritt der Eisernen in der Höhle des Löwen annähernd zu erklären.
Anfangs werden die Hausherren, in dieser Saison als „Bayern der 2. Bundesliga“ bezeichnet, ihrer Favoritenrolle sogar gerecht. Was haben sie auch für ein Team, die brasilianischen Brüder Raffael und Ronny stehen in der Startelf, ebenso der pfeilschnelle Kolumbianer Adrian Ramos. Diese Hammer-Offensive hat es in sich. Aber keiner aus der Abteilung Attacke trifft für die „Alte Dame“, obwohl Ronny mit Freistößen für erste Gefahr sorgt, sondern Roman Hubnik, der tschechische Abwehrmann, findet nach Flanke von Andrej Mijatovic mit einem Kopfball
die Lücke und überwindet Marcel Höttecke im Kasten der Eisernen (13.). Die sind in der Abwehr sowieso noch gar nicht wieder richtig sortiert, nachdem Michael Parensen, der defensive Mittelfeldspieler, nach nur vier Minuten verletzt ausscheidet und durch Paul Thomik ersetzt wird.

Die Schützlinge von Trainer Uwe Neuhaus sind durcheinander, sie zeigen Wirkung, zumal der Gegner sein Spiel bei heftigem Wind strukturiert aufzieht und sofort auf das zweite Tor und die frühe Vorentscheidung drängt. Höttecke hält die Eisernen im Spiel, weil er gegen Ramos (18.) und Raffael (19.) pariert. Eine halbe Stunde hält Herthas Drangperiode an, in der die Köpenicker allein damit beschäftigt sind, Schlimmeres zu verhindern. Vor den Kasten von Maikel Aerts kommen sie so gut wie nicht, nicht einmal in gefährliche Nähe des Strafraumes. Mitte der ersten Halbzeit aber lässt der Druck ein wenig nach. Chinedu Ede, der ehemalige Herthaner in den Reihen der Unioner, versucht sich als Erster (29.), John Jairo Mosquera als Zweiter – schon ist der Ball zum 1:1 drin (37.). Ein wenig wie aus dem Nichts fällt dieser Treffer trotzdem. Christian Stuff bedient den Kolumbianer mit einem weiten Zuspiel, das der halb mit der Brust und halb, naja, mit dem Oberarm annimmt, sich um seinen Bewacher Hubnik dreht und aus 16 Metern mit links vollstreckt.
Von da an, auch weil die Männer aus der Alten Försterei bei einsetzendem Regen wesentlich ballsicherer werden, ist es eine Partie auf Augenhöhe. Während Zerstörer Dominic Peitz für die Köpenicker verzieht (48.), trifft die kanadische Sturm-Kante Rob Friend (1,95 m, 94 kg) für die Charlottenburger den rechten Außenpfosten (53.) und Ramos vergibt freistehend aus elf Metern (64.).
Während die Herthaner ihren Rhythmus nicht mehr finden, beißen sich die Unioner mehr und mehr ins Spiel. Die Vorteile der Hausherren machen sie mit Kampfkraft und Einsatzfreude wett und haben in der entscheidenden Szene ein wenig auch das Glück auf ihrer Seite, weil Aerts nicht ganz auf der Höhe ist. Wie Höttecke im Kasten der Unioner auf die Knaller-Freistöße von Herthas Ronny vorbereitet ist, hat der Niederländer im Tor der Blau-Weißen die Freistöße von Unions Torsten Mattuschka ganz genau studiert. Dabei ist der, den „Tusche“ in Minute 71 aus 25 Metern durch Herthas Abwehrmauer aufs linke Eck zirkelt, auch als Aufsetzer alles andere als unhaltbar. Doch Aerts kommt zu spät und muss den Ball zum 2:1 für die Eisernen passieren lassen.

Glückliche Union-Torschützen: John Jairo Mosquera (rechts) und Torsten Mattuschka. Foto: Koch

Der Freistoß-Gott trifft, diesmal allerdings mit einem ganz und gar irdischen Versuch, zum Derby-Sieg. In den letzten 20 Minuten, als es für den Außenseiter allein darum geht, den Vorsprung mit allen Mitteln über die Zeit zu bringen, bekommt Hertha die ganze Wucht der Eisernen ab. Dazu hat Mattuschka im Freudentaumel lediglich zu sagen: „Wer an sich glaubt und mit Einsatz und Willenskraft dagegenhält, kann auch bei Hertha BSC gewinnen.“
Für die Fans von Union indes ist es ein ganz besonderes Spiel und ein ganz besonderer Sieg. Sie fühlen sich als „Stadtmeister“ und kosten dieses Gefühl wahnsinnig gern und ausgiebig aus.

Hertha BSC – 1. FC Union 1:2 (1:1)
HERTHA: Aerts – Lell, Hubnik, Mijatovic, Kobiaschwili – Niemeyer (87. Lustenberger), Raffael, Rukavytsya, Ronny (80. Domowtschyski) – Ramos, Friend.
UNION: Höttecke – Menz, Stuff, Göhlert, Kohlmann – Peitz – Kolk (87. Brunnemann), Mattuschka, Parensen (4. Thomik), Ede (57. Benyamina) – Mosquera.
SR: Drees (Münster-Sarmsheim) – Z.: 74.244 (ausverkauft).
TORE: 1:0 (13.) Hubnik, 1:1 (37.) Mosquera, 1:2 (71.) Mattuschka.
GELBE KARTEN: Lell, Raffael – Peitz, Benyamina, Kohlmann.

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