Eisern feiert ein Acht-zu-Null für die Seele
Der BFC Dynamo, Erzfeind aus DDR-Zeiten, erlebt in Köpenick ein Waterloo
Autor: Andreas Baingo
Deutschland ist weltweites Gesprächsthema im Jahr 2005. Mit Angela Merkel übernimmt erstmals eine Frau das höchste Regierungsamt, die CDU-Politikerin löst SPD-Frontmann Gerhard Schröder ab und wird Bundeskanzlerin. Als im Vatikan die Kardinäle der römisch-katholischen Kirche ihr Konklave beenden und mit dem Aufsteigen von weißem Rauch die Wahl eines neuen Papstes signalisieren, ist der deutsche Kardinal Joseph Aloisius Ratzinger am 19. April, drei Tage nach seinem 78. Geburtstag, als Benedikt XVI. das neue Oberhaupt der Katholiken.
Es ist ein bewegtes und ein bewegendes Jahr, das mit weltweiter Trauer und Bestürzung beginnt, weil Tage zuvor, am 26. Dezember, ein Seebeben in Südostasien 178.000 Menschen in den Tod reißt und die Schockstarre nach dem verheerenden Tsunami noch lange nicht überwunden ist.
Auf Deutschlands Autobahnen beginnt die Maut-Pflicht für Lastkraftwagen, als „Hartz IV“ verniedlicht tritt die gravierendste Reform des deutschen Arbeitsmarktes seit dem Zweiten Weltkrieg in Kraft, die europäische Raumfahrtsonde Huygens landet aufdem Saturnmond Titan. In London heiratet der britische Thronfolger Prinz Charles seine langjährige Lebensgefährtin Camilla Parker Bowles, in München wird der Modemacher Rudolf Moshammer ermordet. In den USA wird Michael Jackson, der King of Pop, vom Vorwurf des Kindesmissbrauchs freigesprochen. Brasilien triumphiert beim Confederation Cup in Deutschland, der Generalprobe für die WM 2006, und die Rechtschreibreform ist nach vielem Hin und Her nun doch das neue Nonplusultra.
Für den 1. FC Union ist der 21. August der Tag des Jahres, fast schon der Tag des Jahrzehnts. Es ist ein Tag, der für vieles steht, das in der Vergangenheit an Wunden gerissen wurde, an Ungerechtigkeiten und an Gehässigkeiten. Dabei ist es einDuell lediglich in der Nordstaffel der viertklassigen NOFV-Oberliga, in der die Gegner MSV Neuruppin und Hansa Rostock II, Torgelower SV Greif und Motor Eberswalde, Anker Wismar und FC Falkensee-Finkenkrug heißen. Und, natürlich, BFC Dynamo.
Dabei passiert schon 24 Stunden vor dem Spiel etwas ganz Entscheidendes, das Einfluss auf die Partie an diesem schwülheißen Sommertag nimmt. Dieses „Vorspiel“ findet in der Friedrichshainer Diskothek „Jeton“ statt und füllt etliche Polizeiakten.Dort feiern Anhänger des BFC den Ausklang ihres Fanturnieres, Thema ist aber auch das Derby am Tag danach und wie man es am besten stören könne. Am Ende stürmt ein Sondereinsatzkommando das Lokal, geht dabei alles andere als zimperlich vor und nimmt180 Personen in Gewahrsam. Sie werden zum Teil erst nach dem Schlusspfiff der Partie in der Alten Försterei freigelassen. Die Polizei rechtfertigt ihr teilweise rabiates Vorgehen damit, eventuelle kriminelle Taten von gewaltbereiten BFC-Hooliganszu unterbinden.
Es steht sogar die Absage des Derbys im Raum oder gar ein Boykott von Seiten der Gäste. Deren Anhänger fordern ihren Vereinspräsidenten Mario Weinkauf tatsächlich auf, das Spiel aus Protest gegen den Polizeieinsatz zu boykottieren. Weinkaufkontaktiert seinen eisernen Amtskollegen Dirk Zingler mit der Bitte um Solidarität, doch der lehnt ab. Dennoch gibt es bis zum Anpfiff die eine oder andere Irritation, so wird die Partie um eine halbe Stunde verzögert, weil die Gäste angeblich Hosen in der falschen Farbe im Gepäck hätten, deswegen Ersatz beschafft werden müsse, weil die Unterscheidung der Spieler durch Schiedsrichter Helmut Bley, er kommt aus dem 300 Kilometer entfernten Sehmatal im Erzgebirgskreis, nicht gewährleistet sei.
Es ist das dritte Saisonspiel und weder die Eisernen (2:1 gegen BAK, 1:1 bei Tennis Borussia) und noch viel weniger die Männer aus Hohenschönhausen (jeweils 1:2 bei Yesilyurt und gegen Motor Ludwigsfelde) sind ungeschoren ins Spieljahrgestartet. Innerhalb von 90 Minuten aber wird eine komplette Geschichte aufgearbeitet und für den einen vom Kopf auf die Füße und für den anderen von den Füßen auf den Kopf gestellt. Am Ende nämlich steht ein 8:0 für die Eisernen. In Worten und zum Genießenfür jeden, der es mit dem 1. FC Union hält: Acht! Zu! Null!
Wochen, Monate, Jahre später leuchten diese beiden Ziffern noch immer vom nostalgischen Anzeigeturm in der Stadionecke der Alten Försterei an der Waldseite. Denn dieses Ergebnis ist mehr als nur ein ihm wahrsten Sinne des Wortes acht-kantiger Sieg. Es ist ein Triumpf für den Kopf und noch viel mehr für das Herz und für die Seele. Die bitteren Niederlagen der Vergangenheit, als die politischen Umstände für das eine oder andere Gegentor sorgten, sind heimgezahlt. Die Hierarchie im Berliner Ostteil ist umgekrempelt und die Wachablösung endgültig vollzogen. Die einst zementierte Überlegenheit des BFC ist zerbröckelt und in Staub und Schutt zerfallen wie 15 Jahre zuvor der steinerne Grenzwall erst durch die Öffnung und dann durch die Mauerspechte.
Erst aber wird gespielt. Und das in Liga 4 vor 14.020 Zuschauern. Die Hütte ist voll und sie bebt auch dank der 3000 Dynamo-Fans, die trotz der Boykottandrohung doch gekommen sind und ihr Team anfangs sogar lautstärker anfeuern als die EisernAnhänger ihres. Sie brauchen aber auch, um auf Touren zu kommen, zumal zur Pause bei einem 2:0 rein gar nichts auf eine sportliche Abreibung deutet. Torsten Mattuschka – der 24-jährige Mittelfeldspieler ist gerade von Energie Cottbus an die Alte Försterei gewechselt – bringt zwei Buden unter (16., 33.), es sind seine ersten Pflichtspiel-Tore für sein neues Team. Das ist erst einmal alles und Trainer Frank Lieberam muss in der Halbzeitansprache daran appellieren, die Spannung weiterhin hochzuhalten. Zwar ist mit dem 3:0 durch das 19-jährige Stürmertalent Jack Grubert unmittelbar nach dem Wechsel (47.) das Spiel entschieden, weil in den 20 folgenden Minuten aber nichts von Belang passiert, scheint die Partie gemütlich auszutrudeln. So oder so,die Eisernen klettern von Tabellenrang vier auf zwei.
Urplötzlich aber geht das Spiel doch durch die Decke. Grubert zündet mit seinem zweiten Treffer (68.) den Turbo, schon geht es Schlag auf Schlag und Tor auf Tor. Karim Benyamina schafft das 5:0 (77.), Jörg Heinrich, der 1997 mit Borussia Dortmunddie Champions League gewonnen hat, erhöht auf 6:0 (80.), zwei weitere Treffer von Benyamina (82., 89.) bringen das 8:0. In den letzten Sekunden träumen die eisernen Anhänger davon, dass es sogar zweistellig werden möge …
Das wird es nicht, trotzdem nutzen findige Leute das Ergebnis für einen Marketing-Coup. Sie bringen für 9,95 Euro ein T-Shirt auf den Markt mit dem Aufdruck: „8:0! Erledigt! 21.8.05.“ Damit ist alles gesagt. Obwohl, nicht ganz: BFC-TrainerJürgen Piepenburg, einst ein exzellenter Flügelstürmer beim FC Vorwärts und Jahrzehnte zuvor auch mal Trainerassistent bei den Eisernen, wird in Hohenschönhausen wegen der Blamage entlassen. Und die Eisernen steigen in die Regionalliga auf, aber auch sie haben einen hohen Verschleiß an Trainern, denn nach Lieberam übernimmt Georgi Wassilew, doch kurz vorm Saisonende wird der Bulgare von Christian Schreier abgelöst.
1. FC Union – BFC Dynamo 8:0 (2:0)
1. FC UNION: Glinker – Bergner – Ruprecht, Persich, Kaiser – Kurbjuweit (46. Wunderlich), Bönig, Heinrich – Mattuschka (89. Kovulmaz) – Benyamina, Grubert (70. Prokoph).
BFC DYNAMO: Brändike – Lenz – Jarling, Benthin, Rudwaleit, Jakowitz (77. Kayser) – Dehnert, Manteufel (66. Brychcy), Zöphel, Schmele (66. Marjanovic) – Lau.
SR: Bley (Sehmatal) – Z.: 14.020.
TORE: 1:0 (16.) Mattuschka, 2:0 (33.) Mattuschka, 3:0 (47.) Grubert, 4:0 (68.) Grubert, 5:0 (77.) Benyamina, 6:0 (80.) Heinrich, 7:0 (82.) Benyamina, 8:0 (89.) Benyamina.
GELBE KARTEN: Mattuschka, Grubert, Glinker – Lau, Manteufel, Jarling.
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