Ein Spiel, in dem Legenden geboren werden

Als die Eisernen 1968 sensationell den FDGB-Pokal gewinnen …

Autor: Andreas Baingo

Es scheint, als habe ein einziges Spiel den Turbo gezündet. Eine Partie, die nicht nur sensationell endet, nämlich mit einem 2:1 für den 1. FC Union, sondern die Legende wird und es eigentlich mit dem Schlusspfiff am 9. Juni 1968 bereits ist, als die Rot-Weißen aus der Wuhlheide im von der Alten Försterei 190 Kilometer entfernten Kurt-Wabbel-Stadion in Halle an der Saale Geschichte schreiben. Es ist der Moment, als mit dem Triumph im Finale um den FDGB-Pokal gegen den FC Carl Zeiss Jena Helden geboren werden.
Natürlich ist dieser traumhafte Erfolg in einem Jahr, das weltweit Geschichte schreibt, kaum der Erwähnung wert. Eigentlich. In der Tschechoslowakei nämlich sprießt der Prager Frühling, der im August mit sowjetischen Panzern niedergeschlagen wird; in den USA werden im April Bürgerrechtler Martin Luther King und später Robert F. Kennedy ermordet, der Senator drei Tage vor dem Endspiel in Halle; weltweit gehen Jugendliche und Studenten auf die Straße und demonstrieren („Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“) gegen die bestehende Ordnung.

Gruppenbild vor dem Finale: Gemeinsam mit dem Schiedsrichtergespann stellen sich die Spieler des 1. FC Union (gestreifte Trikots) und des FC Carl Zeiss Jena im Kurt-Wabbel-Stadion von Halle den Fotografen. (Foto Schröter)

Im Gegensatz dazu herrschen in der Wuhlheide nahezu familiäre Einigkeit und Harmonie. Die Rot-Weißen sind zufrieden mit ihrer kleinen überschaubaren Welt im grünen Stadtbezirk von Berlin. Dabei dürfen sie stolz sein auf den Weg, den sie bisher zurückgelegt haben, denn die Entwicklung geht durchaus rasant voran bei ihnen. Knapp zweieinhalb Jahre erst sind die Kicker selbstständig, die bei der Gründung von Fußballklubs aus dem TSC Berlin herausgelöst wurden.
Als einziger der elf reinen Fußballklubs der DDR spielen sie da noch zweitklassig, steigen in jener Saison 1965/66 jedoch in die Oberliga auf und machen ihrem Namen als Eiserne alle Ehre.
Plötzlich ist sogar das Stadion zu klein. Aus drei Männer-, je zwei Junioren-, Jugend-, Knaben- und Kinder- sowie vier Schülermannschaften sind innerhalb kurzer Zeit vier Männer-, zwei Junioren-, drei Jugend-, drei Schüler-, vier Knaben- und fünf Kindervertretungen geworden. „Bei einem Blick 30 Monate zurück muss ich sagen, dass wir natürlich mit großem Optimismus an unsere Aufgabe gegangen sind“, meint Klubsekretär Paul Fettback, „wir alle aber haben kaum daran geglaubt, dass die Ränge für die fußballbegeisterten Berliner in unserem Stadion bald nicht mehr ausreichen würden“.

Den Plan für die Erweiterung skizziert der Klubsekretär so: „Durch das Aufschütten einer Erdhalde werden künftig 5000 Zuschauer mehr, insgesamt dann 17.000, unsere Spiele besuchen können. Auf einer Längsseite gibt es dann außerdem nur noch Sitzplätze.“
Es ist die Zeit, in der sich vor allem viele Köpenicker, aber auch andere Berliner an den einzigen zivilen Fußballverein aus dem Ostteil der Stadt binden. Zwar spielt der FC Vorwärts im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark viele Jahre den besten Fußball in der Republik, stellt eine Reihe von Nationalspielern und hat da schon fünf Meistertitel gewonnen, doch seine Spieler tragen die Uniform der Armee. Eine Uniform tragen auch viele Spieler des BFC Dynamo, die des Ministeriums des Inneren, doch die werden auch aus sportlichem Grund gerade nicht ganz ernst genommen. Als die Eisernen ein Jahr zuvor als Oberliga-Neuling auf Rang sechs einkommen, steigen die Weinroten gemeinsam mit Wismut Gera nämlich ab.
Um das Spiel der Spiele schließlich, den Pokal-Krimi in Halle, ranken sich allerlei Legenden. Die verrückteste ist die, dass der 1. FC Union gegen den überlegenen Meister Jena – Carl Zeiss hat beim Titelgewinn fünf Punkte Vorsprung auf Hansa Rostock, den Tabellenzweiten – eigentlich keine Chance hat und Werner Schwenzfeier, dessen Trainerdiplom mit der Unterschrift von Sepp Herberger versehen ist, deshalb mit Reinhard „Mecky“ Lauck einen Trumpf aus dem Hut zaubert. Gegen den wissen selbst die Asse, mit denen Zeiss-Trainer Georg Buschner sonst die Gegner aussticht, kein Mittel und selbst die Mitspieler staunen, woher der junge Kerl in ihrer Defensive die Courage nimmt, sich gegen die prominenten Gegenspieler zu behaupten.

Unvergessene Pokalhelden: Ulrich Prüfke (l.) und Ralph Quest 50 Jahre nach dem Triumph von Halle bei der Einweihung der Erinnerungsstatue vor dem Stadion An der Alten Försterei. (Foto imago images/Koch)

Auch ist da das frühe Gegentor durch Werner Krauß nach nicht einmal einer Minute, das eine Niederlage, sogar eine deutliche, befürchten lässt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Vorzeichen insgesamt nicht sonderlich gut stehen. Mit 26 Treffern haben die Eisernen in der Meisterschaft exakt einen Schnitt von einem Tor pro Spiel erreicht – damit sind sie genauso schlecht wie Lok Stendal, doch die Altmärker sind abgestiegen. Mit 35 Gegentoren haben die Männer um Kapitän Ulrich Prüfke sogar zwei mehr kassiert als Dynamo Dresden – und die Elbflorenzer sind ebenfalls abgestiegen. Mit solch einer Bilanz also wollen die Rot-Weißen gegen den Meister bestehen und ihm das erste Double einer DDR-Mannschaft vermasseln?
Das geht, denn der Rest ist ein grandioser Rainer Ignaczyk im Tor, ist eine stramme Abwehr mit Wolfgang Hillmann (er wird später durch Harry Zedler ersetzt), Wolfgang Wruck, Reinhard Lauck und Hartmut Felsch, ist im Mittelfeld neben Kapitän Ulrich Prüfke der 23-jährige Benjamin Harald Betke und ist der Gala-Angriff mit Jimmy Hoge, Ralf Quest, Meinhard Uentz und Jürgen Stoppock. Auch sind da die beiden Treffer zum Sieg, ein von Uentz verwandelter Handelfmeter (29.) und das Kontertor durch Quest (63.).
Der Sensation folgt die Kür mit einem Empfang bei Oberbürgermeister Herbert Fechner im Roten Rathaus, dem Eintrag ins Ehrenbuch des Magistrats von Berlin und der Übergabe eines neuen Mannschaftsbusses. Allein die sportliche Kür findet nicht statt. Die Eisernen, die auf ihr Debüt im Europacup der Pokalsieger brennen, dürfen wegen der Auswirkungen der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings nicht auf die europäische Bühne.

1. FC Union – FC Carl Zeiss Jena 2:1 (1:1)
UNION: Ignaczak – Lauck, Hillmann (65. Zedler), Wruck, Felsch – Prüfke, Betke – Hoge, Uentz, Quest, Stoppok.
JENA: Blochwitz – Preuße (69. Peter Ducke), Rock, Strempel, Werner – Brunner (46. Marx), Schlutter, Roland Ducke – Stein, Krauß, Scheitler.
TORE: 0:1 (1.) Krauß, 1:1 (29.) Uentz (Handelfmeter), 2:1 (63.) Quest.
SR: Glöckner (Markranstädt) – Z.: 14.000

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