Die „Schlosserjungs“ greifen nach der Victoria
1923 steht Oberschöneweide im Endspiel um die deutsche Meisterschaft
Autor: Andreas Baingo
Die junge Weimarer Republik erlebt das schwerste Jahr seit ihrer Gründung fünf Jahre zuvor. Mit der Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich und Belgien eskaliert 1923 der Konflikt um die Reparationszahlungen. Im Herbst erreicht die Krise ihren Höhepunkt: Die Schwarze Reichswehr unternimmt einen Putschversuch; im Rheinland rufen Separatisten die Rheinische Republik aus; in Hamburg kommt es zu einem Kommunistenaufstand; in Sachsen rücken Reichswehrtruppen ein und in München putscht NSDAP-Führer Adolf Hitler.
Die „Goldenen Zwanziger“, wie sie vor allem im Trubel des Nachtlebens in Berlin, der pulsierenden Weltstadt, auch 1923 (aber später noch viel mehr) genossen und geprasst werden? Von wegen!
Deutschland steht politisch am Abgrund, das Land leidet unter der Zerreißprobe. Reichskanzler Stresemann wird nach dem Austritt der SPD aus der Regierung gestürzt. Zudem erschüttert die verheerende Inflation die deutsche Wirtschaft in ihren Grundfesten. Nahezu täglich gibt die Reichsbank neue Banknoten mit am Ende astronomischen Zahlen heraus. Die Geldscheine werden im Eilverfahren mit dem neuen Wert einfach überstempelt. Die erste Ausgabe der „Fußball-Woche“ am 24. September 1923 kostet drei Millionen Mark, bis November steigt der Einzelverkaufspreis auf 200 Milliarden Mark. Im selben Monat kostet ein Liter Vollmilch 280 Milliarden Mark, ein Ei 320 Milliarden, ein Kilo Roggenbrot 470 Milliarden und ein Kilo Butter 5,6 Billionen, das ist eine Zahl, bei der der 6 elf Nullen folgen!

In dieser katastrophalen Gemengelage wird trotzdem munter Fußball gespielt. Gleich am 1. Januar des Jahres findet ein Länderspiel in Mailand gegen Italien statt. Es wird 1:3 verloren. Am 3. Juni gibt der 23-jährige Johannes Sobek von Alemannia 90 sein Debüt in der Nationalelf und bestreitet beim 2:1 in Basel gegen die Schweiz sein erstes von zehn Länderspielen. Andererseits müssen die Leserder Zeitschrift „Fußball“ für die Ausgabe mit den Berichten über das Endspiel um die deutsche Meisterschaft schon 1500 Mark bezahlen. Eine Woche später kostet eine Ausgabe bereits 2500 Mark, und im Oktober beträgt der Preis für das 20-seitige Heft vier Milliarden Mark.
Für Fußball-Fans aus Oberschöneweide ist die 1500-Mark-Ausgabe regelrechter Goldstaub. Denn sensationell steht der dortige SC Union 06 am 10. Juni 1923 im Endspiel gegen den großen Favoriten Hamburger SV. Manche der 64.000 Zuschauer im Grunewaldstadion hoffen auf den Triumph des krassen Außenseiters aus dem Berliner Osten. Dass daraus nichts wird und am Ende eine 0:3 (0:1)-Niederlage steht, ist ziemlich bald klar. Bereits nach 34 Minuten stellt das 0:1 durch Otto Harder, den sie alle nur „Tull“ nennen, der es auf 14 Tore in 15 Länderspielen bringt und der sich später als strammer SS-Mann gibt, die Weichen auf einen ungefährdeten Sieg der Norddeutschen, zumal vorher ein Treffer von Ludwig Breuel nicht gegeben wird.
Allein Franz Müller im Union-Kasten, von der allgemeinen Berliner Schnauze als „schlechtester Torhüter Berlins“ bezeichnet, läuft zu überragender Form auf und wächst über sich hinaus. Nur weil Müller einige eigentlich todsichere HSV-Gelegenheiten zunichtemacht und die Spieler mit der Raute auf dem Trikot dreimal den Pfosten treffen, bleiben die Männer aus Oberschöneweide im Spiel. Gegen die weiteren Tore durch Ludwig Breuel per Kopf (70.) und Karl Schneider (90.) ist auch der Torhüter machtlos. Die Treffer verdeutlichen die Überlegenheit des Siegers.
Zu bieder ist das Spiel der Blau-Weißen, weil im Mittelfeld August Hamann, Otto Splittgerber und Otto Martwig nie ihren Rhythmus finden und die Verteidiger Ernst Standtke und Franz Klautsch alle Mühe haben, die Hamburger vom Strafraum fernzuhalten. Zu schwach ist vor allem der Angriff an diesem gewitterschwülen Nachmittag, obwohl Mittelstürmer Hermann Lux in dieser Endrunde mit zwei Treffern seinen Torriecher durchaus bewiesen hat, durch Albert Dietz, Willi Jachmann sowie Horst und Max Franke diesmal aber keine nennenswerte Unterstützung erfährt. Die „Schlosserjungs“ haben ihre Hände zwar nach der Victoria ausgestreckt, zu fassen aber bekommen sie die Trophäe für den Meister zu keiner Sekunde.
Die Oberschöneweider liefern ihr Meisterstück bereits vorher ab, und zwar gleich mehrere Male. Zunächst mit dem Titel in Berlin als Sieger der beiden Staffelbesten gegen den BFC Vorwärts 1890, ihrem zweiten nach 1920. Danach im Viertelfinale gegen Arminia Bielefeld. Einem 0:0 in Bochum folgt ein 2:1 nach Verlängerung in Berlin im Grunewaldstadion, wobei die Bielefelder bis fast zum Ende der regulären Spielzeit führen. Für die größte Überraschung, eigentlich die Sensation, sorgt Union im Halbfinale gegen die SpVgg. Fürth. Die Franken sind seit Anfang des Jahres, seit sie in einem Freundschaftsspiel den HSV mit 10:0 vom Platz fegten, der große Favorit auf den Titel. Ihre Ambitionen unterstreichen sie mit einem glatten 4:0 im Viertelfinale gegen die Breslauer Sportfreunde.

Was sich jedoch am 27. Mai in Halle an der Saale auf dem Platz des VfL 96 abspielt, geht als eine der größten Überraschungen in den Endrunden um die deutsche Meisterschaft ein. Das 2:1 (2:0) von Union Ob. vor 10.000 Zuschauern ist auch deshalb so sensationell, da der Fußball in Berlin gegenüber dem in Süddeutschland als nur zweitklassig gilt. Doch auch schon zwei Wochen vor dem Endspiel beweist vor allem Union-Schlussmann Müller seine Klasse und sichert bei der Abwehrschlacht mit sehenswerten Paraden den Sieg. Allein der Einzug ins Endspiel ist ein historischer Erfolg, wenngleich die ganz große Krönung ausbleibt.
Union Oberschöneweide – Hamburger SV 0:3 (0:1)
UNION OB.: Franz Müller – Erich Standke, Franz Klautzsch – August Hamann, Otto Splittgerber, Otto Martwig – Albert Dietz, Horst Franke, Hermann Lux, Max Franke, Willi Jachmann.
HSV: Hans Martens – Albert Beier, Marcel Speyer – Otto Carlsson, Asbjørn Halvorsen, Hans Krohn – Walter Kolzen, Ludwig Breuel, Otto Harder, Karl Schneider, Hans Rave.
TORE: 0:1 (34.) Harder, 0:2 (70.) Breuel, 0:3 (90.) Schneider.
Z.: 64.000 im Deutschen Stadion (Grunewald).
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