Vom Fast-Chinesen zum Unioner auf Lebenszeit
Als Zweitliga-Profi verlor Steffen Baumgart sein Herz an die Eisernen
Autor: Matze Koch
Es gibt Szenen im Dasein eines Fußballers, die den Zuschauern für immer in Erinnerung bleiben. Bei Steffen Baumgart ereignet sich eine solche am 1. November 2002. Beim Zweitliga-Heimspiel des 1. FC Union gegen den MSV Duisburg erleben 6741 Besucher nach gut einer Stunde eine Aktion Baumgarts, die für den unbändigen Kampfgeist des damals 30 Jahre alten Offensivmannes spricht. „Ich bin wohl drei-, viermal auf allen vieren weitergekrochen und im Fallen zum Torabschluss gekommen“, erinnert sich Baumgart an seinen Stolper-Sturmlauf ab der Mittellinie. Die Begegnung endet torlos.
Die Nullnummer ist im Zettelkasten der Union-Statistik unter den nicht ganz so bedeutenden Ergebnissen abgelegt. Baumgarts Lauf in Richtung Waldseite hat sich aber wie eine Furche ins Gedächtnis eingegraben. Baumgart kommt als Typ bei den Fans an. Dabei ist er keine drei Monate da. Seine Vorstellung findet am 7. August 2002 in den Räumlichkeiten der damaligen Geschäftsstelle in der Hämmerlingstraße statt. Präsident Heiner Bertram und Trainer Georgi Wassilew präsentieren mit dem zuvor zur Probe vorspielenden Uche Igwe von den Wolfsburger Amateuren einen weiteren Angreifer. Wassilew wird gefragt, was er zur Verpflichtung von Baumgart sagt. Der Bulgare äußert sich distanziert. Baumgart erinnert sich: „Die Pressekonferenz war legendär. Wassilew hat gesagt, dass er mich nicht kennt. Er hat aber gehört, dass ich ein guter Spieler sei. Er wusste aber nicht mal, auf welcher Position ich spiele.“ Das Verhältnis zwischen Vereinsführung und dem oft sehr eigenwilligen Chefcoach ist schon knapp drei Monate vor dem Rauswurf von Wassilew aus den Fugen geraten. Baumgarts Ein-Jahres-Vertrag mit Option handelt Baumgart-Berater Jörg Neubauermit Vereinsboss Bertram und Geschäftsführer Bernd Hofmann aus.


Union ist nach Baumgarts Vertragsende bei Hansa Rostock nur die zweite Wahl. Fast wäre aus dem bis dahin für Hansa und den VfL Wolfsburg schon 183-mal in der Bundesliga erprobten Profi ein Chinese geworden. Baumgart unterschreibt bei Peking Guoan einen Vertrag. „Ich war 14 Tage lang in China. Dann haben die von heute auf morgen gesagt, dass ich wieder gehen kann“, schaut Baumgart zurück. Neubauer und Baumgart nehmen wieder Kontakt zu Union auf, der bereits vor der China-Reise bestand. Beide Seiten profitieren voneinander. Die Eisernen beheben ihren Stürmermangel. Der Fußballer bekommt einen Job und wird eine Legende, obwohl er nur zwei Jahre in der Wuhlheide kickt. In 68 Pflichtspielen gelingen ihm 21 Treffer. Baumgart ist sich für keine Grätsche zu schade und zeigt auch verbal immer Kante. Er steigt zum Kapitän auf und wird von den Fans sowohl 2003 als auch 2004 zum Unioner des Jahres gekürt. „Ich hatte das Glück, Union zwei Jahre als Spieler zu erleben. Leider endete das für mich als Kapitän 2004 mit dem Abstieg aus der 2. Liga“, sagt Baumgart im März 2019. „Es war dennoch die intensivste und schönste Zeit meiner Karriere. Was ich für mich bei dem Verein entdeckt habe, geht nicht weg.“ Dabei erlebt der gebürtige Rostocker einiges in seiner Karriere. Mit dem Zweitligisten Dynamo Schwerin/PSV Schwein erreicht er 1990 das DDR-Pokalfinale gegen Dynamo Dresden (1:2) und den Europacup der Pokalsieger (0:2 und 0:0 gegen Austria Wien). Seine erste Station in den alten Bundesländern ist Verbandsligist SpVgg Aurich (1991 bis ‘94). Nach Union spielt er für Energie Cottbus (2004 bis Ende 2007, 41 Erstligapartien), den Drittligisten 1. FC Magdeburg (2008) sowie unterklassig für Germania Schöneiche und den SV Woltersdorf.
Beim 1. FC Magdeburg beginnt seine Trainerkarriere (März 2009 bis März 2010), bei Hansa Rostock ist er 18 Monate lang Co-Trainer (01/2011–06/13). Beim SSV Köpenick-Oberspree hilft er zwischenzeitlich aus. 2014/15 macht Baumgart beim DFB seinen Fußball-Lehrerschein, ehe er mit dem Berliner AK in der Regionalliga-Saison 2015/16 nur wegen des schlechteren Torverhältnisses dem späteren Aufsteiger FSV Zwickau den Vortritt lassen muss. Im April 2017 beginnt seine Erfolgsgeschichte beim SC Paderborn. Wegen des Lizenzentzuges für 1860 München bleibt Paderborn zunächst glücklich in der 3. Liga. 2018 steigt der SCP in die 2. Bundesliga auf, 2019 in die Bundesliga. Obwohl das Team dort aktuell auf dem 18. und letzten Platz steht, haben die Partien der voll auf Offensivfußball setzenden Ostwestfalen hohen Unterhaltungswert. Auch in Paderborn genießt Baumgart große Wertschätzung, aber nur für Union hat der inzwischen 48-Jährige seine Liebe in Stein meißeln lassen. Seit 2005 hängt sein Stadion-Gründerstein im Tunnel unter der mechanischen Anzeigetafel der Alten Försterei. Auf ihm steht: „Steffen Baumgart – Wir sehen uns!“ Baumgart bereut das bis heute nicht. Den Spruch habe er bewusst gewählt. Der Verein sei schließlich eine Herzensangelegenheit für ihn. Das werde sich auch nicht ändern. Eine Kopie des Steins steht bei ihm in der Wohnstube. Der Hauptwohnsitz seiner Familie befindet sich nach wie vor in Köpenick, nur 1,5 Kilometer vom Stadion An der Alten Försterei entfernt. Bei Union ist er immer noch registriert. Die Mitgliedsnummer 72 entspricht seinem Geburtsjahr. Baumgart spielt bissig in der Union-Traditionsmannschaft mit. Seine Frau Katja leitete bis Ende 2019 die Union-Zeughäuser. Viele Freunde der Baumgarts sind Union-Fans. In direkten Duellen muss Baumgart darüber aber hinwegsehen. Manche Anhänger hoffen, dass Baumgart irgendwann zu Union als Cheftrainer zurückkehrt.

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